„Klar, auch wir sind davon betroffen, dass Menschen ohne echten Notfall in die Notaufnahme kommen“, sagt Voges. Vor allem junge Menschen seien zunehmend hilfloser und weniger leidensfähig als ältere Generationen. „Dann wird auch nachts bei Halsschmerzen die Notaufnahme aufgesucht“, erklärt er. Doch eine Gebühr zu entrichten – das sieht er kritisch. Der Mediziner befürchtet, dass gerade sozial Schwächere dann mehr Angst hätten, die Notaufnahme aufzusuchen. „Aus ethischer Sicht ist deshalb eine Notaufnahme-Gebühr nicht zu vertreten“, so der Chefarzt. Außerdem stelle sich die Frage, wer festlege, ob der Besuch in der Notaufnahme berechtigt war? „Der Arzt, der Patient oder die Krankenkasse?“, fragt er. Es gebe keine allgemeingültige Definition, was ein Notfall sei, „das ist immer auch eine subjektive Einschätzung“.
Patienten mit weniger schwerwiegenden Beschwerden seien ohnehin nicht das Hauptproblem der Notfallaufnahmen. „Das ist zwar belastend. Aber sie warten eben auch länger. Schon seit vielen Jahren erfolgt bei Patienten ja eine Ersteinschätzung nach Dringlichkeit.“ Voges sieht vielmehr die Problematik in der kassenärztlichen Versorgung. „Wünschenswert wäre in jedem Dorf ein Hausarzt mit Notfallsprechstunde, auch wenn das illusorisch ist“, so der Chefarzt. Er schlägt eine gesamtsystematische Lösung vor: „Die Grenzen zwischen Rettungsdienst, Hausärzten und klinischer Notfallversorgung müssen aufgeweicht werden.“
Konkret sieht sein Vorschlag vor, dass die ambulante Versorgung von Notfällen einheitlich erbracht und auch vergütet werden sollte, „egal ob sich Patienten in der hausärztlichen, der Bereitschaftsdienst-Praxis, in einer Notaufnahme oder telemedizinisch vorstellen“. Im Falle der Notaufnahmen sollten Integrierte Notfallzentren mit integrierter kassenärztlicher Versorgung entstehen, für die beispielsweise hier in Peine mit der direkt räumlich angegliederten Bereitschaftsdienstpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) bereits vor Jahren der Grundstein gelegt worden sei.
Die Leitstellen für den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst (116 117) und den Rettungsdienst (112) sollten gemeinsam und nach vereinheitlichtem Schema arbeiten, so dass den Hilfesuchenden immer und ohne wesentliche Verzögerungen die passende Hilfe zukommt – im einfachsten Fall eine telefonische Beratung, bei gravierenderen Erkrankungen ein Hausbesuch und im kritischen Notfall der Rettungsdienst gegebenenfalls mit Notarzt“, so Voges.
Ein weiteres großes Problem praktisch jeder Notaufnahme sei die Reduzierung der stationären Kapazitäten. Denn die maximale Anzahl der Patienten in einem Krankenhaus richte sich auch nach der Anzahl der Pflegekräfte. Wegen des Fachkräftemangels stünden deshalb unter anderem Betten leer, und „Patienten liegen stundenlang in den Notaufnahmen bis ein Bett auf Station für sie verfügbar ist“, kritisiert der Mediziner.
Die Strafgebühr sei „eine Option, die sich aber politisch nicht durchsetzen ließe“ sagt Friedrich Scheibe, Kreisvorsitzender der KVN und praktizierender Hausarzt in Groß Bülten, das zeigten die Erfahrungen aus der Praxisgebühr vor einigen Jahren.
Vor dem Besuch einer Notaufnahme empfiehlt Scheibe, die Nummer 116 117 des ärztlichen Bereitschaftsdienstes zu wählen, „das macht Sinn, denn über ein strukturiertes Verfahren werden Patienten in die richtige Abteilung geleitet. Denn 80 Prozent derer, die eine Notaufnahme aufsuchen, müssten eigentlich nicht dorthin und akut behandelt werden“. Da spiele auch eine „gewisse Ungeduld“ eine Rolle. Die Konsequenz: „Echte Notfälle warten auf eine Behandlung“, so der Arzt. Da sei Aufklärungsarbeit notwendig.
Doch wie sollen Patienten entscheiden, ob es sich um einen Notfall handelt – oder nicht? „Das ist oft sehr schwierig“, sagt Scheibe. Beispielsweise müsse bei akuten Brustschmerzen die 112 gewählt werden, bei einer Blutdruckerhöhung jedoch nicht. Es sei denn, Symptome wie Lähmungserscheinungen, Sehstörungen oder Kopfschmerzen kämen hinzu.
Der Kreisvorsitzende schlägt eine digitale Vernetzung des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes und des Notrufes 112 vor. „Der Rettungsdienst wird oft in Fällen gerufen, die keine Notfälle sind, die aber der kassenärztliche Bereitschaftsdienst übernehmen könnte“, so Scheibe. Ein koordiniertes Vorgehen hätte für die Patienten den Vorteil geringerer Wartezeiten – und die knappen medizinischen Ressourcen könnten gebündelt werden.