„Alle Kinder lernen lesen“ – so zumindest heißt es in einem Lied, das zum Standardrepertoire auf deutschen Einschulungsfeiern gehört. Doch tatsächlich lernen längst nicht alle Kinder wirklich lesen. Darauf jedenfalls deuten die Ergebnisse der jüngsten „Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung“ (Iglu) hin, die in Berlin vorgestellt wurden. Besonders ein Befund sticht dabei ins Auge: Rund ein Viertel der deutschen Viertklässlerinnen und Viertklässler kann nicht ausreichend lesen, um sich damit eigenständig neue Inhalte aneignen zu können. Und auch im Zeitverlauf zeichnet die Untersuchung ein düsteres Bild: So hat die Lesekompetenz deutscher Schulkinder seit der letzten Erhebung im Jahr 2016 deutlich abgenommen.
Ein Teil dieser Entwicklung dürfte auf die Schulschließungen infolge der Corona-Pandemie zurückzuführen sein. Denn als die Datenerhebung für die Iglu-Studie im Sommer 2021 abgeschlossen wurde, waren die Schulen in Deutschland laut einer Untersuchung des Ifo-Instituts an insgesamt 183 Tagen komplett oder zumindest teilweise geschlossen gewesen. Gerade bei jüngeren Schulkindern habe das zu großen Rückständen geführt, erläutert der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger. „Schulschließungen haben Grundschüler stärker getroffen, weil sich diese noch in der Phase der Aneignung von Grundkompetenzen befinden, also zum Beispiel Lesen.“ Auch seien Grundschulkinder weniger als Kinder und Jugendliche in höheren Jahrgangsstufen dazu in der Lage, sich die Unterrichtsinhalte eigenständig zu erarbeiten.
„Die Pandemie erklärt sicherlich einen Teil dieser Ergebnisse, kann aber nicht als alleinige Erklärungsursache herangezogen werden“, sagte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Katharina Günther-Wünsch, bei der Vorstellung der Iglu-Studie. Stattdessen rücke vor dem Hintergrund einer gestiegenen Anzahl von Kindern mit Migrationshintergrund auch die Bedeutung der in deren Familien gesprochenen Sprache in den Fokus.
Denn auch das ist ein zentraler Befund der Iglu-Studie: Kinder, die in ihrem familiären Umfeld Deutsch sprechen, können deutlich besser lesen als Kinder, die sich zu Hause nur selten oder nie auf Deutsch unterhalten. Und noch ein weiterer Zusammenhang fällt auf: der zwischen Lesekompetenz und sozialer Herkunft. Als „alarmierend“ bezeichnete die Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung, Sabine Döring, diesen Befund. „Skandalös“ nennt Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied im Organisationsbereich Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Ergebnisse der Studie. „Die soziale Schere geht immer weiter auseinander. Damit wird die Chancengleichheit in Deutschland weiter gefährdet“, sagt sie.
Auch die wissenschaftliche Leiterin der Iglu-Studie in Deutschland, Nele McElvany vom Institut für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund, legt besonderes Augenmerk auf die soziale Herkunft als Faktor für den Lernerfolg. Schülerinnen und Schüler aus privilegierten Familien seien stark begünstigt, führte die Wissenschaftlerin aus – und verwies darauf, dass seit der ersten Iglu-Studie im Jahr 2001 keine Fortschritte beim Abbau von Nachteilen zu beobachten seien, die Kinder mit Migrationshintergrund beim Lesenlernen hätten. Als Fazit haben die Autorinnen und Autoren der deutschen Iglu-Studie Handlungsempfehlungen erarbeitet, die dabei helfen sollen, die Lesefähigkeiten von Kindern zu verbessern und sozial bedingte Nachteile auszugleichen. Unter anderem sei es gerade in den ersten Schuljahren wichtig, das Erlernen grundlegender Kompetenzen zu priorisieren. Dazu gehöre auch, mehr Unterrichtszeit auf das Lesenlernen zu verwenden. Darüber hinaus fordern die Autorinnen und Autoren, die Lernfortschritte der Kinder besser zu überwachen.
In eine ähnliche Richtung argumentiert der Präsident des Lehrerverbandes. Neben einem stärkeren Fokus auf die Vermittlung von Grundkompetenzen wie dem Lesen brauche es flächendeckende Sprachstandtests schon unter Vorschulkindern und individuelle Förderung für jene, die in der deutschen Sprache Rückstände aufweisen.