Schon auf der Zielgeraden zum Abitur war Neumann ihr Berufswunsch klar. „Meine eigene Mutter hat mich drauf gebracht.“ Die hatte erkannt, wie fasziniert ihre vierte Tochter von schwangeren Frauen war, immer die kugelrunden Bäuche streicheln wollte. Heute ist die 47-Jährige freiberuflich in der Wochenbett-Betreuung tätig und kümmert sich als Angestellte auch um die Hebammenzentrale des Landkreises Gifhorn.
„Ich war erst Kinderkrankenschwester“, berichtet ihre Kollegin Gerwien. „Ich wollte gern was mit Kindern machen.“ Nach fünf Jahren orientierte sie sich um. Heute ist die 50-Jährige freiberuflich in der Wochenbettbetreuung tätig und arbeitet ansonsten im Kreißsaal des Helios-Klinikums, wenn sie dort nicht gerade als stellvertretende Leiterin Organisatorisches zu erledigen hat. „Nie bereut“ habe sie ihre Entscheidung.
„Es ist jedes Mal ein Wunder, ein Leben zu begleiten“, sagt Gerwien. „Ich empfinde es als Privileg, dabei sein zu dürfen“, sagt Neumann. „Oh du bist Hebamme, wie schön“: Wenn sie das zu hören bekommt, sagt sie: „Ja! Das passt einfach für mich.“
Dass immer weniger junge Frauen den Beruf der Hebamme erstrebenswert finden, führen die beiden erfahrenen Hebammen auf die Arbeitsbedingungen zurück. Damit meinen sie nicht allein die ausbaufähige Vergütung, sondern mehr noch die Dynamik, die sich aus der Situation ergibt: Je mehr ausscheiden, desto stressiger wird es für die Übriggebliebenen.
Von den 29 Hebammen im Kreis Peine, die bei der dortigen Hebammenzentrale gelistet sind, könnten sechs Kolleginnen demnächst in den Ruhestand gehen oder haben das Alter dafür bereits erreicht. Landkreis-Sprecherin Katja Schröder: „Der Wechsel der Hebammen in den Ruhestand ist auch nur relativ zu sehen, da Kolleginnen auch in Ruhestandzeiten noch im reduzierten Umfang tätig sind.“ Fünf junge Kolleginnen hätten sich voriges Jahr registrieren lassen. Genaue Zahlen über Hebammen in Ausbildung habe der Landkreis nicht. Die Ausbildung laufe an Hochschulen.
Von 41 Hebammen im Kreis Gifhorn sind 17 zwischen 50 und 59 Jahre alt, drei über 60, so Landkreis-Sprecherin Dr. Annika Döweling. 33 Mütter seien auf der Warteliste der Hebammenzentrale. Eigentlich bräuchte es zehn Hebammen mehr. Doch die Nachwuchsgewinnung sei schwierig. Während Neumann zum Beispiel damals noch eine klassische dreijährige Berufsausbildung absolviert hat, ist der Beruf heute akademisch: „Im Landkreis Gifhorn kann an keiner Einrichtung das Studium der Hebammenwissenschaften absolviert werden“, so Döweling. Studienorte in Niedersachsen sind Oldenburg, Göttingen, Osnabrück und Hannover. „Über das Helios-Klinikum Gifhorn nehmen jetzt drei Schülerinnen das Studium der Hebammenwissenschaften auf.“
In Peine gibt es laut Schröder die Möglichkeit, einen Zuschuss zu Fortbildung oder Niederlassung zu beantragen. Der Landkreis stelle auch einen kostenlosen Kursusraum zur Verfügung.
Gifhorn geht den Weg der Stipendienvergabe. Laut Döweling haben seit 2018 insgesamt neun Hebammen ein Stipendium erhalten. Zwei würden aktuell noch gefördert, eine Hebamme habe die Ausbildung abgebrochen. Seit 2019 gewährte der Landkreis zudem 13 Mal einen Zuschuss zur „Ausbildungsbegleitung Hebamme/Entbindungspfleger“: Die bezuschussten Hebammen begleiten Hebammenschülerinnen in der Praxis. Seitdem erhielten zwei Hebammen den Gründungszuschuss zur Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit.
Die 33 Mütter auf der Gifhorner Warteliste sind laut Döweling aktuell ohne Versorgung. Auch der Landkreis Peine stellt laut Schröder „Unterversorgungen in einzelnen Tätigkeitsbereichen“ fest. Werdende Eltern sollten sich deshalb frühzeitig kümmern. Döweling rät, sich an die Hebammenzentrale zu wenden. „Diese vermittelt Hebammen bei frei werdenden Kapazitäten, bietet eigene Kurse, Sprechstunden sowie das Café Storchennest an.“
Gerwien und Neumann raten allen betroffenen Eltern, auf der Homepage des Deutschen Hebammenverbandes unter https://www.unsere-hebammen.de/aktionen/unterversorgung-melden/ ihre Erfahrungen mit Unterversorgungen zu melden. Dort gebe es eine interaktive Karte, die umso besser informieren könne, je mehr teilnähmen. Ansonsten sehen die beiden Hebammen vor allem die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen zu ändern, damit wieder mehr junge Frauen – und Männer – mit Lust auf Arbeit mit Menschen in den Job nachrücken.
Dringend geboten sehen Gerwien und Neumann die Nachwuchsgewinnung, sowohl bei freiberuflichen, als auch bei im Kreißsaal tätigen Hebammen. Hausgeburten seien in Gifhorn zwar selten geworden, doch in jüngster Zeit hätten einige Mütter ihre Kinder ohne Begleitung zu Hause zur Welt gebracht, weil sie Angst hätten, in einen vermeintlich überfüllten Kreißsaal zu kommen. Diese Entwicklung sehen die Hebammen mit Sorge. Eine Geburt sei eben immer mit gewissen Risiken verbunden.