Bei der Frage, wie es dem zweifachen Familienvater nach der Veröffentlichung der Geschichte geht, fällt Thiemann zuerst das Wort „angestrengt“ ein. Er denke dabei an die vielen Besuche in seinem Schuhladen sowie die zahlreichen Anrufe, die ihn täglich bombardieren würden. Als „wunderbar“ beschreibt er hingegen die große Hilfsbereitschaft, die ihm und seiner Familie infolge der Berichterstattung zukomme. „Wir haben sehr viel Resonanz bekommen“, sagt er. Viele Leute würden helfen wollen.
Besonders dankbar sei er über den Austausch mit Gleichgesinnten. Es hätten sich drei Familien aus der Nähe gemeldet. Bei den Betroffenen handele es sich ebenfalls um drei junge Frauen zwischen 19 und 25 Jahren. „Eine der Mütter kenne ich sogar“, erzählt Thiemann. Außerdem hätten ein paar Leute aus Saras Heimatdorf eine kleine Spende für die kranke Frau gesammelt. „Darüber hat sich Sara besonders doll gefreut“, erzählt Saras Freund Jonas Kracht, der mit ihr in Hannover lebt. Das Geld sei eine hilfreiche Unterstützung für die vielen Arztkosten und Medikamente, die die Familie selbst zahlen müsse.
Kommentare mit einfühlsamen Worten oder Hilfsangeboten, wie „Mich hat der Artikel tief berührt. Meine Kinder sind alle in ihrem Alter und ich mag mir nicht vorstellen, was Sara und ihre Familie durchmachen“ oder „Ich hätte vielleicht jemanden, der helfen könnte“ und „Alles Gute für Sara. Es ist so schlimm, wenn niemand helfen kann. Die Regierung muss einfach mehr unternehmen, damit diese Krankheit endlich erforscht wird“, erreichten die Redaktion der PAZ über Instagram und Facebook. „Sogar RTL hat angerufen“, berichtet Andreas Thiemann. „ Aber ob Sara an einem solchen Bericht mitwirken kann, wissen wir nicht.“ Ihm sei es wichtig, dass seine Tochter wenigstens zehn Minuten sprechen könne für einen Fernsehbeitrag – das sei aktuell allerdings noch nicht in Sicht. Die Augen längere Zeit geöffnet zu haben, sich zu konzentrieren oder gar zu sprechen kostet viel Energie. Energie, die die aufgeschlossene, lebensfrohe Frau mit ihren 25 Jahren nun nicht mehr aufbringen kann. „Sie kann vielleicht noch zwei Prozent ihrer Kraft nutzen“, schilderte Thiemann in dem Bericht, mit dem er Ende Oktober an die Öffentlichkeit ging.
Sara selbst kenne den Artikel über ihr Schicksal aus der PAZ noch gar nicht. „Wir werden ihr den erst vorlesen, wenn es ihr besser geht“, sagt Thiemann. Man wolle die vielen Eindrücke fern von der jungen Frau halten, damit sich ihr Zustand nicht verschlechtere. Dem Familienvater sei es immer wichtig gewesen, gehört zu werden. Das Ziel sei durch die Berichterstattung allerdings nur teilweise erfüllt worden. „Ich hatte mir erhofft, direkt von Ärzten angerufen zu werden“, gibt er zu. Aber der Vöhrumer weiß auch: „Viele kennen die Krankheit ME/CFS gar nicht.“ Sich damit auseinanderzusetzen, bedeute in der Medizin viel Aufwand und wenig Verdienst.
„Es ist so schwierig, Hilfe zu bekommen“, bestätigt Jonas Kracht, der Sara gemeinsam mit ihrer Mutter rund um die Uhr pflegt. Die beiden größten Herausforderungen bestünden darin, dass Fachärzte keine Hausbesuche machen würden und die Experten nicht direkt in Hannover, sondern bundesweit verteilt beispielsweise in Erlangen, Düsseldorf oder Münster seien. „Sara liegt gefangen in ihrem Zimmer und bekommt keine Behandlung. Am schlimmsten ist, dass sie im Krankenhaus oft nicht ernst genommen wird.“
Andreas Thiemann wünscht sich, dass mehr in die Forschung investiert werde. „Da müsst ihr was tun“, ist sein Appell an die Politikerinnen und Politiker sowie das Gesundheitssystem. In Erlangen werde aktuell eine Studie mit zwei Probanden mit einem neuen Mittel namens BC007 durchgeführt, das gegen die Krankheit helfen solle. Allerdings würde es nach Einschätzungen des Familienvaters noch gut zwei Jahre dauern, bis die ersten Ergebnisse bekannt würden. „Dabei könnte man dieses Projekt ohne Probleme durch 50.000 Euro beschleunigen“, sagt er. „Bei den vielen Ausgaben, die wir an den Staat haben, wäre das nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“Eine erste Petition wurde bereits von Seiten des Bündnisses #NichtGenesen, die aus Betroffenen besteht, gestartet. Sie fordern eine biomedizinische Forschung zu Long-Covid, ME/CFS und dem Post-Vakzin-Syndrom, Zulassungsstudien zur finanziellen Unterstützung des Medikaments BC007 sowie interdisziplinäre Behandlungszentren. Bereits seit den 70er-Jahren sei die Krankheit bekannt und dennoch wisse man heute immer noch nicht, wo sie herkommt. Nach Thiemanns Angaben seien vor allem Frauen zwischen 18 und 40 Jahren infolge einer Infektion betroffen. Er frage sich, ob die dreifache Corona-Impfung bei seiner Tochter der Auslöser gewesen sein könnte.
„Sara geht es genauso scheiße wie vor vier Wochen“, sagt der Familienvater offen über den Zustand seiner Tochter. In den vergangenen Wochen hätten sich keine Fortschritte abgezeichnet. Alle zwei bis drei Monate würde die Medikation angepasst. „Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben – aber vor allem darf Sara das nicht“, macht Thiemann klar. Inzwischen hätte die Krankenkasse die Pflegestufe vier für Sara ermittelt. Zufrieden sei der Familienvater damit allerdings nicht. Er überlege, Widerspruch einzulegen. Ob sich der Aufwand lohne, wisse er allerdings nicht. Auch ein Krankenbett könne die Familie inzwischen bekommen.
Trotz ihrer schweren Krankheit gibt der Vöhrumer die Zukunftsträume für seine Tochter nicht auf. „Schreiben war immer ihr Ding“, erzählt er über Sara. Sie wäre jetzt im vierten Semester ihres Journalistik-Studiums. Nebenbei hätte sie bereits journalistisch gearbeitet. Ihr Vater hofft, dass seine Tochter diese Tätigkeiten in zwei bis vier Jahren wieder aufnehmen kann. „Ich habe mir immer vorgestellt, sie irgendwann als Tagesschau-Sprecherin im Fernsehen zu sehen“, sagt er lachend. Seinen Humor hat er trotz der schwierigen Situation nicht verloren.