Wenn Ann mit ihrem Mann Bill redet, spricht sie ihre Worte nicht. Sie denkt sie. Das Sprechen übernimmt eine Maschine, die direkt an ihre Großhirnrinde angeschlossen ist. Dieses sogenannte Brain-Computer-Interface, abgekürzt BCI, liest Anns Gedanken und formt daraus die Sätze, die Ann sprechen würde, wenn sie es könnte. Sie kann es nicht mehr, seit ein Hirnstamminfarkt sie fast vollständig lähmte. Ein Neurochirurg in San Francisco hat das BCI auf Anns Kortex implantiert. Die KI lernt selbstständig, es ist das gleiche Prinzip wie bei ChatGPT.
Geräte nur mit Gedankenkraft lenken? Es ist eine faszinierende, geradezu futuristische Anwendung, die dank neuer KI-Technik nun einen großen Entwicklungsschritt gemacht hat. Die Vernetzung von Geist und Technik ist in vollem Gange. Den Big-Tech-Konzernen aber geht es nicht nur um so segensreiche Anwendungen wie die in der Medizin. Sie wittern Geschäfte. Neurowissenschaftler und Psychiater Surjo Soekadar, der an der Berliner Charité zu BCIs forscht, sieht die Gefahr eines doppelten Ansatzes. „Die Strategie könnte sein, dass man über die Forschung ein Monopol aufbauen will. Über die medizinische Anwendung holt man sich sozusagen die ethische Lizenz und sichert sich die Patente. In einem zweiten Schritt skaliert man die Technik dann herunter, um sie für den Konsumentenmarkt attraktiv zu machen.“
Tatsächlich könnte die Datenkrake mit BCIs nun nach der letzten und intimsten Bastion der Privatheit greifen – unseren Gedanken. Die Verbindung von Neurotechnologie mit KI sei „weitreichend und potenziell schädlich“, erklärte im Juli Gabriela Ramos, Vizedirektorin für Sozial- und Humanwissenschaften bei der Unesco. Die UN-Organisation für Wissenschaft und Kultur arbeitet derzeit an einem internationalen ethischen Rahmen für Neurotechnologien. Und die sind aus Sicht von Experten dringend nötig, wird es doch wahrscheinlich nicht dabei bleiben, Gedanken zum Steuern von Maschinen zu benutzen. Auch andersherum entstehen Möglichkeiten – und Gefahren. „Wir sind auf dem Weg in eine Welt, in der Algorithmen uns ermöglichen, die mentalen Prozesse von Menschen zu entschlüsseln und direkt die Gehirnmechanismen zu manipulieren, die ihren Absichten, Emotionen und Entscheidungen zugrunde liegen“, warnte Ramos.
Die Big-Tech-Firmen stehen allerdings noch vor einem technischen Problem. Wer in die menschliche Gedankenwelt blicken und ihre Inhalte in Echtzeit ablesen will, muss tief in den Kopf eindringen. So wie bei Ann und ihrem Sprach-BCI. Damit aber kann die Industrie kaum Kunden werben. Sie braucht leicht handhabbare, ästhetisch ansprechende Modelle. Solche nicht invasiven Geräte gibt es durchaus schon. Angesichts solcher Entwicklungen fordert die Neuroethikerin Farahany die Einführung eines neuen Menschenrechtes, das sie „kognitive Freiheit“ nennt. Sie denkt dabei nicht an Verbote von Neurotechnologien, sondern an Abwehrrechte der Bürger gegen den Missbrauch ihrer Hirndaten – durch Big-Tech-Konzerne, aber auch am Arbeitsplatz oder im Gesundheitswesen. Derweil macht die Verbindung von KI und Neurotechnologie atemberaubende Fortschritte.