Eine Detektivin würde sich niemals damit zufriedengeben, wenn nur Teile eines Falles gelöst wären – wenn sie ein gestohlenes Juwel wiederfindet, aber die Identität des Diebes nicht kennt. Ähnlich geht es der Medizin und Forschung: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wissen heute, wie zahlreiche Krankheiten behandelt werden können, kennen aber deren Ursachen in vielen Fällen nicht. Deswegen können sie die Leiden nicht heilen. Eine dieser Krankheiten ist die Depression.
Was genau passiert im Gehirn, dass Menschen krank werden? Bislang gibt es auf diese Frage keine finalen Antworten, sondern nur Hypothesen. „Depression ist eine schwere, aber behandelbare Erkrankung. Die bisher verfügbaren Behandlungsmethoden sind aber nicht optimal wirksam“, sagt Psychiater und Depressionsforscher Claus Normann. Die klassischen Antidepressiva können fast einem Drittel aller Patientinnen und Patienten nicht helfen. Bei einem weiteren Drittel können sie zwar die Symptome lindern, aber die Erkrankung nicht heilen. Nur ein Drittel der Betroffenen kann die Erkrankung damit aufhalten, zumindest solange die Medikamente eingenommen werden.
„Fast alle verfügbaren Medikamente beruhen auf der Monoaminhypothese der Depression“, sagt Normann. „Die zentrale Annahme ist, dass die Botenstoffe Serotonin oder Dopamin zu wenig im Gehirn vorkommen und medikamentös angehoben werden müssen.“ Die gängigen Mittel erhöhen den Serotonin- oder Dopaminspiegel. Allerdings wird das Problem eben nicht bei allen Erkrankten behoben, wenn sie Antidepressiva nehmen. Und oft tritt die antidepressive Wirkung erst nach Wochen oder Monaten ein, obwohl die Tabletten den Serotonin- oder Dopaminspiegel relativ schnell nach der Einnahme erhöhen, wie mehrere Studien zeigen.
Es brauche eine andere Idee, sagt Normann, und meint dabei eine ganz bestimmte: Die Depressionsforschung beschäftigt sich zunehmend mit der Neuroplastizität. Vereinfacht gesagt, beschreibt Neuroplastizität die Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern und zu lernen. „Es gibt schon lange Einzelbefunde, die darauf hinweisen, dass die Plastizität bei depressiven Menschen gestört ist“, so Normann.
Die Neuroplastizitätshypothese könnte helfen, zu erklären, warum gewisse Behandlungswege depressiven Menschen helfen. Studien lassen vermuten, dass Psychotherapie die Neuroplastizität fördert. Forschende zeigten in einer Studie, dass sich im Laufe einer Psychotherapie die neuronale Architektur von depressiven Menschen verändert – auch das könnte demnach ein Hinweis auf Neuroplastizität sein. Selbst wenn klassische Antidepressiva auf einer anderen Hypothese beruhen, könnte ihr Erfolg bei vielen Menschen auch durch Neuroplastizität zu erklären sein. „Antidepressiva fördern Plastizität“, sagt der finnische Neurologe Eero Castrén.
Zusammen mit Normann und weiteren Forschenden entdeckte Castrén einen Mechanismus, wie gängige Antidepressiva im Gehirn wirken. Sie binden demnach an einen Rezeptor für das Wachstumshormon BDNF, das in der Forschung oft als Schlüsselmolekül und treibende Kraft für Neuroplastizität verstanden wird. „Wir konnten in unserer Forschung zeigen, dass alle klassischen Antidepressiva und auch Ketamine und Psychedelika an den Rezeptor für BDNF binden. Das ist ihr gemeinsamer Nenner“, so Castrén.
In der Depressionsforschung stehen die Substanzen Ketamin und Psychedelika stark im Fokus als Alternative zu bisherigen Antidepressiva. Psychedelika – wie Psilocybin oder LSD – und Ketamine sind vorwiegend als Partydrogen bekannt und verboten. Inzwischen werden die Substanzen in verfeinerter Form aber zunehmend als Medikamente gegen Depression in Betracht gezogen. „Es gibt bereits Hinweise darauf, dass Ketamine und Psychedelika Neuroplastizität aktivieren“, sagt Castrén.
So fand er mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in einer Studie heraus, dass Psychedelika im Vergleich zu klassischen Antidepressiva tausendmal stärker an den Rezeptor für BDNF binden. Psychedelika sind in Deutschland nicht zur Behandlung von Depression zugelassen; Ketamin kann dagegen in Form des Nasensprays Spravato in bestimmten Fällen zum Einsatz kommen. Unter anderem dann, wenn Betroffene an einer schweren, therapieresistenten Depression leiden – also bislang keinen Erfolg mit mindestens zwei anderen Antidepressiva hatten. Spravato darf aber nur zusätzlich zu klassischen Antidepressiva und unter Aufsicht von medizinischem Fachpersonal angewendet werden.
„Die Forschung über Ketamin steht ganz im Vordergrund in der Depressionsforschung“, sagt Psychiater Normann. Der Vorteil sei, dass die Substanz bereits nach ein bis zwei Stunden wirke. Und schon innerhalb einer Woche fördert sie die Plastizität im Gehirn. „Ketamin wirkt auf den Neurotransmitter Glutamat, der eine sehr wichtige Rolle bei Plastizität spielt.“ Allerdings: Neuroplastizität bleibt eine Hypothese, wenngleich eine vielversprechende. Ob sich die Forschung wirklich in die richtige Richtung bewegt, ist noch unklar. Untersuchungen der Neuroplastizität bei depressiven Menschen sind vergleichsweise aufwendig. Normann untersucht depressive Menschen etwa anhand der sogenannten Elektroenzephalografie (EEG), mit der Veränderungen der Plastizität gemessen werden können.
Zudem betonen Castrén und Normann, dass bei der Behandlung einer Depression die Einnahme von Medikamenten selten ausreicht. Daran dürfte sich auch mit neuen Medikamenten nichts ändern. „Es ist sehr wichtig, dass man die medikamentöse Behandlung mit einer Psychotherapie verbindet. Wenn Antidepressiva wirklich die Plastizität erhöhen, dann ist es wichtig, dass man gleichzeitig positive Emotionen erlebt“, sagt Normann. Wenn Betroffene wiederum in einer negativen Umwelt mit Konflikten und Stress lebten, könne es passieren, dass durch Antidepressiva die negativen Einflüsse aus diesen Umweltreizen verstärkt würden.