„Ich parke immer zwei bis drei Straßen weiter, um keine Neugierde zu erregen“, berichtet er. Der Seelsorger öffnet die Fahrertür, steigt aus dem Auto und geht zum roten Backsteinhaus. Mehrfach vergewissert er sich, ob es tatsächlich die von der Leitstelle genannte Hausnummer ist. Der Pfarrer klingelt an der Haustür und stellt sich der Familie vor. „Darf ich reinkommen?“, fragt er vorsichtig. Das Ehepaar nickt stumm. Der Mann deutet mit dem Zeigefinger in Richtung Wohnzimmer.
Der 38-jährige Andreas Bartholl, Pfarrer in Dungelbeck und Klein Ilsede sowie Schulpastor am Peiner Ratsgymnasium, ist einer von rund 7.500 Notfallseelsorgern in Deutschland. Er hilft dort, wo andere wegschauen: Nach plötzlichem Kindstod, Suiziden, Bränden oder tödlichen Verkehrsunfällen steht er Hinterbliebenen unterstützend zur Seite. „Der häufigste Einsatzgrund im Landkreis Peine ist das Überbringen einer Todesnachricht im häuslichen Umfeld“, erklärt Kirchenkreissprecherin Nicole Laskowski. Sie schätzt, dass mehr als 80 Prozent der Einsätze in den eigenen vier Wänden der Betroffenen stattfinden.
Im gesamten Kirchenkreis Peine haben die Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorger rund 30 bis 40 Alarmierungen im Jahr. Der Bedarf sei jedoch im Laufe der Zeit gestiegen. Bis vor drei Jahren seien es durchschnittlich nur 25 Einsätze gewesen. Die Kirchenkreissprecherin vermutet, dass das Angebot einer Notfallseelsorge inzwischen viel mehr Menschen als früher bewusst sei. „Zudem gibt es immer mehr alleinlebende Menschen oder Kleinfamilien, wo der Rückhalt geringer ist“, berichtet Laskowski.
„Ich habe tatsächlich immer mehr Einsätze bei alleinlebenden Menschen“, bestätigt Andreas Bartholl. Laut dem Pfarrer habe sich die Arbeitswelt verändert, sodass viele erwachsene Kinder immer weiter weg wohnen würden. So treffe er beispielsweise nicht selten auf Mütter oder Väter in einem Singlehaushalt. „Wer einen akuten Trauerfall hat, braucht ein persönliches Gespräch und kein Telefonat“, so Bartholl. Es sei jedoch nicht selten, dass er mit der oder dem Betroffenen die Zeit überbrücke, bis die Angehörigen eintreffen würden.
„Meist treffe ich auf offene Türen“, erklärt er. Es gebe aber auch Menschen, die ihn wegschicken würden, weil sie nichts mit Kirche am Hut hätten. Das akzeptiere der Seelsorger. Doch er fahre zu keinem Einsatz ohne seinen blau-gelben „Notfall-Rucksack“. Bartholl stellt ihn auf dem Boden ab und öffnet den Reißverschluss. Zum Vorschein kommen neben einer Erste-Hilfe-Ausstattung ein kleiner Teddy mit gelber Weste, Traubenzucker, eine Kerze, ein Gebetbuch, Taschentücher sowie ein Block mit Stiften.
„Ich leiste seelische Erste Hilfe und verhelfe Betroffenen zu Sicherheit und Halt nach der ersten Sprachlosigkeit“, berichtet er. Letzteres könne beispielsweise bedeuten, den Bestatter zu kontaktieren, ein Familienmitglied zu verständigen oder zu überlegen, wo eine Person, die nicht alleine für sich sorgen kann, erst einmal unterkommen kann. Oft bestehe seine Arbeit aber auch einfach darin, seinem Gegenüber zuzuhören oder eine Kerze für einen Verstorbenen anzuzünden. „Ich folge bei Trauerritualen oft meiner Intuition“, sagt Andreas Bartholl.
Nicht immer sei es einfach, mit der Situation umzugehen. Doch der 38-Jährige habe seine eigenen Strategien entwickelt, um die oft tragischen Erlebnisse zu verarbeiten. „Ich entspanne mich beim Autofahren oder spiele Klavier, um wieder im Alltag anzukommen“, beschreibt er. Daneben bringe er ausreichend Erfahrung durch seinen Beruf mit. „Ein Pfarrer macht etwa 1.300 Beerdigungen in seinem Leben“, erzählt er. Außerdem gebe es seitens des Kirchenkreises Peine auch das Angebot der Supervision. Bartholl selbst habe zwei Kolleginnen, mit denen er sich mindestens alle sechs Wochen über seine Arbeit als Notfallseelsorger austausche. Die eigenen Erfahrungen würden so in anonymisierter Weise reflektiert.
Aktuell arbeiten 21 Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorger im Landkreis Peine. Vier von ihnen sind ehrenamtlich tätig, alle anderen ausgebildete Pfarrerinnen und Pfarrer. Laskowski sorgt sich jedoch um die zukünftige Besetzung des Amtes. „Bei der wachsenden beruflichen Belastung der Pastoren ist es oft schwierig, sich einen oder mehrere Tage im Monat freizuhalten, um gegebenenfalls einen Einsatz zu übernehmen“, gibt Laskowski zu bedenken. Ehrenamtliche müssten zudem eine nebenberufliche Ausbildung absolvieren, die für viele eine Hürde darstelle. Diese bestünde aus rund zehn Seminarwochenenden im Zeitraum von etwa zwei Jahren.
Falls sich zukünftig neben den Pastorinnen und Pastoren nicht genügend Ehrenamtliche für die Aufgabe der Notfallseelsorge finden, könnte es eng werden mit einer Nachbesetzung. Das würde bedeuten, dass sowohl Familien als auch Alleinstehende nach Schicksalsschlägen neben Nachbarn sowie Freundinnen und Freunden keinerlei professionelle Unterstützung in akuten Notsituationen erhielten.
Gegen 2 Uhr nachts ist der Einsatz von Andreas Bartholl beendet. Im Auto legt er seine lilafarbene Notfallseelsorge-Jacke ab. Er schaltet das Radio an und fährt in der Kälte zurück nach Hause. Es beginnt zu schneien, als der Pfarrer noch einmal um den Block seiner Wohnsiedlung in Dungelbeck läuft, um sich gedanklich zu sortieren. Bartholl tritt sich die Schuhe auf der schwarzen Fußmatte ab und öffnet die Tür zu seinem Pfarrbüro.
Dort setzt sich der 38-Jährige an seinen Schreibtisch und tippt seine Gedanken in Form eines Protokolls am Computer ab. Bartholl setzt den letzten Punkt und schaltet das Licht aus. Mit dem Weg ins Bett schließt er mit dem Einsatz ab.
In wenigen Stunden steht für ihn der Religionsunterricht mit seiner zwölften Klasse am Peiner Ratsgymnasium an. So wesentlich die Notfallseelsorge für die Gesellschaft ist, so wichtig ist es für den Einzelnen, die tragischen Ereignisse loslassen zu können.