Mutmaßliche Femizide im Kreis Peine: Warum nimmt Gewalt gegen Frauen zu?
Nach Taten in Rietze und Wendeburg: Expertinnen sprechen über die Ursachen für eine mögliche Gewaltspirale

Häusliche Gewalt: In Peine gab es im vergangenen Jahr 368 Fälle. Und die Zahlen steigen an.Foto: IMAGO/Zoonar
Peine. Massive Hals- und Kopfverletzungen führten zum Tod einer 62 Jahre alten Frau in Wendeburg im Januar 2025. Zugefügt wurden sie ihr mutmaßlich von ihrem Lebensgefährten. Eine weitere Frau starb im Februar in der Gemeinde Edemissen: Auch die 38 Jahre alte Marie B. aus Rietze wurde getötet. Unter Verdacht steht der ehemalige Lebensgefährte der dreifachen Mutter.

Zwei mutmaßliche Femizide, zwei Frauen, die den Ermittlungen zufolge von ihrem Partner beziehungsweise Ex-Partner getötet worden sein sollen. Warum kommt es zu solch schrecklichen Taten? Und warum nimmt Gewalt gegen Frauen zu?

„Wir leben in einer sehr krisenhaften Zeit“, sagt Stefanie Weigand, Leiterin des Peiner Frauenhauses. „Kriegsängste, Klimakrise, Wirtschaftskrise - das zieht sich durch alle Systeme. Das kleinste System der Gesellschaft ist die Familie. Und darauf lastet massiver Druck“, sagt sie. Mitunter so viel Druck, dass dieser sich entlädt. Und das oft auf Kosten der Frauen.

Das beobachtet auch Kathrin Sahin, Leiterin der Peiner Beratungs- und Interventionsstelle bei häuslicher Gewalt, kurz BISS: „Man hat das schon in der Corona-Pandemie gesehen. Die Zahlen in den Beratungsstellen sind gestiegen, ebenso die Zahlen der Wegweisungen, die die Polizei im Lockdown ausgesprochen hat.“ Gleichzeitig sei das Thema Gewalt gegen Frauen mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. „Toxische Beziehungen sind zum Beispiel viel diskutiert worden“, schildert Sahin. Dadurch sei die Dunkelziffer sichtbarer geworden.

Der physischen Gewalt geht häufig psychische Gewalt voraus. Abwertung, Isolation oder sogar Gaslighting: Eine Form der psychischen Manipulation, bei der eine Person gezielt versucht, das Selbstbild und die Realitätswahrnehmung einer anderen Person zu untergraben - auch das haben Frauen erlebt, die in ihrer Beratung sitzen. „Wenn man kein gesundes Gegenüber hat, das mir spiegeln kann, dass ich mit meiner Wahrnehmung richtig liege, dann geht mir die Wahrnehmung für mich selbst verloren”, erklärt sie den Mechanismus.

„Frauen sollten auf ihr Bauchgefühl hören“, lautet ihr Rat. Geht in einer Beziehung alles zu schnell, überschüttet der Partner die Frau förmlich mit Liebe, könnte dahinter das sogenannte Lovebombing stecken. Das Liebesbombardement ist ebenfalls eine manipulative Beziehungstaktik, die die Partnerin schnell abhängig machen soll.

In diesem Jahr gab es bis Ende Mai bereits 153 Fälle von häuslicher Gewalt in Peine. Meist sind Männer die Täter, Frauen die Opfer. Schubsen, würgen, schlagen oder kurz vor einer körperlichen Eskalation: Kommt es zu solchen Vorfällen, hat die Polizei die Möglichkeit, eine sogenannte Wegweisung auszusprechen. „Das heißt, der Täter muss den Schlüssel bei der Polizei abgeben und die Wohnung verlassen“, erklärt Sahin. “Er darf sich der Frau nicht nähern.“

Gab es einen Gewaltvorfall in einer Familie oder Partnerschaft, ruft die BISS-Leiterin die Betroffene innerhalb von zwei bis drei Tagen an. „Es gibt dann Frauen, die sagen: Es war nur ein Missverständnis”, schildert die 44-Jährige ihre Erfahrungen. „Oft sind das die Fälle, die sehr massiv sind.“

Sahin muss bei ihrer Beratung vorsichtig vorgehen. „Es ist ein Thema, für das man sich schämt.“ Das Zeitfenster, in dem die Frauen für Gespräche zugänglich seien, sei klein. „Schnell wird da ein Regenbogenfilter drüber geworfen“, sagt sie.

Neben den Emotionen, die so ein Vorfall auslöse, gehe es in der Beratung darum, den Frauen ihre rechtlichen Möglichkeiten aufzuzeigen. „Und es geht um die Frage: Was ist meine Haltung zu einer gesunden Beziehung auf Augenhöhe?“, erklärt die Expertin. Das sei ein Prozess, der Zeit in Anspruch nehme. Wichtig sei für die Betroffenen, sich nach einer Gewalteskalation zu sortieren, wieder auf Augenhöhe zu kommen.

Doch sich diese Zeit zu nehmen, werde zunehmend schwieriger, hat Stefanie Weigand, Leiterin des Peiner Frauenhauses beobachtet. Besonders wenn Kinder beteiligt seien, könnten die Frauen auch im Frauenhaus kaum durchatmen. „Die Frauen geraten schnell unter Druck, wenn sie ins Frauenhaus gehen und ihre Kinder mitnehmen“, schildert sie. Die Väter würden sich dann häufig ans Familiengericht wenden. „Durch die umgangsrechtlichen Fragen versuchen sie, an die Kinder ranzukommen und darüber letztlich an die Frauen“, so die Frauenhausleiterin. „Das kriegen wir in letzter Zeit vermehrt über unsere Netzwerke mit.“

Dadurch sei der Schutzraum, in den sich Frau und Kind geflüchtet hätten, schnell kein Schutzraum mehr. „Dabei ist es so wichtig, dass die Betroffenen wieder Kraft sammeln können. Aber die Kinder werden als Druckmittel eingesetzt, und Mütter sind oft über ihre Kinder am angreifbarsten.“ Als großen Fortschritt würde sie eine Novellierung des Gewaltschutzgesetzes sehen, indem Väter in Fällen von häuslicher Gewalt für bis zu sechs Monate der Umgang mit ihren Kindern verwehrt bleibe oder nur begleitete Umgänge möglich seien. Ebenfalls diskutiert werde, Femizide juristisch generell als Mord zu ahnden.

Im Jahr 2024 gab es im Landkreis Peine 368 Fälle häuslicher Gewalt (Vorjahr 349)- darunter 323 Fälle, in denen die Polizei gerufen wurde - sowie 45 Fälle, in denen Betroffene sich selbst bei der Beratungsstelle BISS gemeldet hatten. In den allermeisten Fällen waren dabei Frauen von Gewalt betroffen, in elf Fällen waren es Männer.

„Wo bist du gewesen? Wohin gehst du?‘ Oft beginnt es mit dem Kontrollieren des Partners“, schildert Weigand. Die Leiterin des Peiner Frauenhauses hat tagtäglich mit Frauen zu tun, die den ersten Schritt aus einer gewaltbehafteten Partnerschaft bereits geschafft haben. 57 Frauen und 48 Kindern konnte das Frauenhaus in Peine im Jahr 2024 Schutz vor ihren gewalttätigen Partnern und Vätern bieten. In diesem Jahr sind es bereits 31 Frauen, die dort Schutz gesucht haben. Die Zahlen steigen weiter.

Kontrolle gebe es oft auch auf finanzieller Seite. „Wenn die Frau kein Geld hat, ist sie natürlich von ihrem Partner abhängiger. Ihr wird vom Partner vermittelt, dass sie nichts wert ist.“ Beleidigungen, Bedrohungen, Handgreiflichkeiten: Aus all dem entwickelt sich eine Gewaltspirale, aus der nur ein kleiner Anteil der Betroffenen den Absprung schafft.

Häusliche Gewalt komme in allen Kulturen und in allen Schichten vor, erklären die beiden Expertinnen. Sorgen bereitet ihnen, dass sich in den sozialen Medien in Sachen Rollenverteilung eine Art Rückwärtsentwicklung vollziehe - weg von der Emanzipation und hin zum Patriarchat. „Influencer und TikToker bestärken das“, so die Frauenhausleiterin. Auch die Tradwife-Bewegung wird dort propagiert. Sie befürwortet ein traditionelles Frauenbild und wird mit dem Lebensstil der 1950er-Jahre assoziiert. „Das ist schockierend, wenn man weiß, wie hart die Frauen um Gleichberechtigung gekämpft haben“, so Weigand.

Immerhin: Mit dem Anfang des Jahres beschlossenen Gewalthilfegesetz soll sichergestellt werden, dass gewaltbetroffene Frauen einen kostenfreien Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung haben. Es soll bis 2032 umgesetzt werden - das heißt, auch die Frauenhäuser müssen dann durch den Bund finanziert werden.

Diese Häuser sind für Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, oft der letzte Ausweg. Bevor es vielleicht zu spät ist. In den Polizeiberichten, die auf Kathrin Sahins Schreibtisch landen, gibt es Namen, die sich häufen. Wenn sie sie liest, macht sie sich oft Sorgen. Sorgen, dass die Frauen das nächste Mal vielleicht nicht mehr an ihrem Schreibtisch sitzen.

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