Die Ministerin hatte öffentlich sagt, dass sie ein „völlig unrealistisches und überzogenes Erneuerbaren-Ziel“ am Werk sieht, das die Ampelkoalition verschuldet habe. Der Neubau müsse künftig „netzorientiert und nicht mehr umgekehrt“ angegangen werden: Eine Kehrtwende um 180 Grad. Dabei leiten sich die Vorgaben schlicht von den gesetzlich festgelegten Klimazielen ab. Für die Windenergie an Land bedeutet das zum Beispiel, dass sich bereits Ende 2024 Rotoren mit einer Gesamtleistung von 69 Gigawatt hierzulande hätten drehen sollen. Gerade vorgelegten Zahlen der Fachagentur Wind und Solar zufolge waren es aber 63,34 Gigawatt, und zwar am 30. Juni 2025.
Dabei wurde im ersten Halbjahr kräftig gewerkelt: 409 moderne Windräder mit einer Gesamtleistung von 2,2 Gigawatt gingen ans Netz – so viel wie seit 2017 nicht mehr. Der Bundesverband Windenergie (BWE) und die Herstellerlobby VDMA Power Systems erwarten, dass dieses Jahr bis zu 5,3 Gigawatt hinzukommen. Das würde aber bedeuten, dass die Latte erneut gerissen wird. „Den positiven Entwicklungen zum Trotz klafft eine Lücke zwischen dem tatsächlichen Zubau und den im Erneuerbare-Energien-Gesetz formulierten Zielen“, sagte BWE-Präsidentin Bärbel Heidebroek Anfang der Woche bei der Vorstellung der aktuellen Branchenzahlen.
Also müsste eigentlich mehr statt weniger Ausbau das Ziel sein. Die Branche jedenfalls schaltet auf Vorwärtsverteidigung um: Die Windindustrie beweise gerade ihre Fähigkeit, „Produktionskapazitäten flexibel und effizient an eine steigende Nachfrage anzupassen“, sagt Dennis Rendschmidt, Geschäftsführer des Herstellerverbands VDMA Power Systems. Er fügt hinzu: „Damit Investitionen in ein nachhaltiges industrielles Wachstum langfristig gesichert werden können, bedarf es jedoch eines stabilen und verlässlichen politischen und wirtschaftlichen Rahmens.“ Das dürfte an die Adresse von Wirtschaftsministerin Reiche gerichtet sein.
Der Windkraftbranche droht einiges. So steht im schwarz-roten Koalitionsvertrag kurz und knapp: „Die Flächenziele für 2032 evaluieren wir.“ Dahinter steckt die gesetzliche Regelung, dass in sieben Jahren 2 Prozent der deutschen Landesfläche für Windenergieanlagen ausgewiesen sein sollen, um sicherzustellen, dass genügend schlanke Stahltürme mit Rotoren aufgestellt werden. Nun kursiert die Vermutung, dass die Überprüfung durch das Ministerium eine Ergänzung um eine Art Kostenklausel bringen könnte. Schließlich ist im Koalitionsvertrag viel von einem „systemdienlichen“ Ausbau erneuerbarer Energiequellen und einer „Synchronisierung“ mit den Netzen die Rede. Unterstützung dafür kommt von den Energiekonzernen Eon und RWE. Das ist brisant, da Reiche vor ihrer Berufung zur Ministerin Managerin bei einer Eon-Tochter war.
Die beiden Konzerne betonen in einem gemeinsamen Positionspapier: „In Zukunft sollten erneuerbare Energien vorrangig dort zugebaut werden, wo sie die geringsten Systemkosten, insbesondere in Bezug auf den Infrastrukturausbau verursachen.“ Hauke Hermann, Energieexperte beim Öko-Institut, warnt indes vor Irrwegen: „Wenn der Ausbau der Windenergie durch neue Restriktionen eingeschränkt wird, dann besteht die Gefahr, dass dies dort geschieht, wo ein Ausbau besonders dringlich und wichtig ist: in Süddeutschland.“ Denn dort seien die Spielräume besonders groß, weil das Flächenziel von 2 Prozent bei Weitem noch nicht erreicht sei. Aber: „Gleichzeitig sind mehr Windkraftanlagen im Süden enorm nützlich, weil sie die Notwendigkeit von Stromtransporten aus dem Norden verringern und damit den Druck für einen Ausbau der Netze verringern.“
Ein weiterer zentraler Punkt des gemeinsamen Papiers von Eon und RWE ist das Thema Strombedarf. Dazu heißt es: Um eine Überdimensionierung der Netze zu vermeiden, bedürfe es realistischer Szenarien zum Beispiel „in Bezug auf die unterstellte Stromnachfrage“. Hintergrund: Die Ampel-Regierung hatte mit einem stark steigenden Bedarf gerechnet, weil ein enormer Zuwachs an Elektroautos und Wärmepumpen unterstellt wurde – bislang fällt beides aber eher bescheiden aus.
Gleichwohl warnt Heidebroek, dass ein Kleinrechnen des Strombedarfs zu einer „selbst erfüllenden Prophezeiung“ werden und letztlich die gesamte Ökonomie bremsen könnte. Es gelte, bei der Überprüfung die richtigen Annahmen zu treffen. Das bedeutet aus Sicht der BWE-Chefin: „Wir sind davon überzeugt, dass die Ausbauziele richtig sind und dass der Strombedarf auch weiter ansteigt, weil wir die Elektrifizierung der Industrie haben, weil wir Rechenzentren haben, weil wir KI haben.“ In so einem Szenario ist auch für Rendschmidt klar: „Das Problem liegt eher auf der Netzseite. Wir machen unsere Hausaufgaben, aber die Netze kommen damit nicht nach.“