Bierbergerin überquert
die Alpen zu Fuß
Nina Ueberheide hat in sechs Tagen den Fernwanderweg E5 allein zu Fuß gemeistert

Nina Ueberheide am Ziel ihrer Träume: die Similaunhütte auf 3.016 Metern und eine unvergessliche Aussicht.Foto: Nina Überheide
Dungelbeck. Am Morgen des 24. Juli war es endlich so weit. In Oberstdorf im bayerischen Oberallgäu, zwischen Nebelhängen und kühlen Bergwiesen, schnallte sich Nina Ueberheide ihren Rucksack um. Zehn, vielleicht elf Kilo Gepäck, alles, was sie für die kommenden sechs Tage brauchen würde.

„Ich konnte es kaum glauben, dass dieser Tag jetzt da ist“, sagt die 42-Jährige Bierbergerin, die jede freie Minute am liebsten im Freien verbringt. Schon lange hatte sie sich das Ziel gesetzt, den berühmten Fernwanderweg E5 auf der klassischen Route bis nach Meran zu wandern – allein, 7.000 Höhenmeter, einmal über die Alpen.

Die erste Etappe war überschaubar: 16 Kilometer, 1.000 Höhenmeter, Nebelschwaden über dem Oberstdorfer Tal. „Ich bin losgelaufen mit einem großen Grinsen im Gesicht“, erinnert sie sich.

Die ersten Bachläufe, die ersten Wasserfälle, ein paar flinke Eidechsen und schließlich die erste Berghütte. Kein Warmwasser, kein Handyempfang. Dafür ein Schild, das sie gleich verstand: „Wir haben alles, was Sie brauchen. Was wir nicht haben, brauchen Sie auch nicht.“

Von Hütte zu Hütte ging es weiter, immer höher, über Geröllfelder, durch Wälder, vorbei an tosenden Wasserfällen und weiten Almflächen, auf denen sogar Wildpferde weideten.

Die Wege waren manchmal seilgesichert, bei steilen Passagen kamen sogar Steigeisen zum Einsatz. Meistens war Nina Ueberheide allein unterwegs. Genau so hatte sie es gewollt. Der E5 ist zwar belebt, aber nicht überlaufen. „Ich wollte wissen, dass ich im Notfall nicht ganz allein bin, aber trotzdem meine Ruhe habe“, sagt sie.

Unterwegs blieb sie oft an Orten stehen, die ihr den Atem nahmen – nicht nur wegen der Höhe. Einmal endete das Tal wie an einer unsichtbaren Mauer. Dort, wo früher ein mächtiger Gletscher verlaufen war, lag jetzt nur noch ein kleiner Fluss. „Man hört immer von Gletscherschmelze, aber hier sieht man es“, sagt sie.

Später, auf einem schmalen steilen Steig, kreuzte ein Steinbock ihren Weg. Er schaute sie kurz an und ging dann seelenruhig seines Weges. „Das hat mich berührt. Selbst wenn es steinig und anstrengend ist im Leben, sollte man ruhig bleiben.“

Am vorletzten Tag drohte der Abbruch. Für die Etappe zur Braunschweiger Hütte auf 2.856 Metern wurden ab 2.600 Metern Schneefall gemeldet. Einige Wanderer gaben auf. Nina Ueberheide rief vom Tal aus den Hüttenwirt oben auf dem Gipfel an.

Seine Antwort: „Welcher Schnee?“ Also ging sie und erlebte den schönsten Aufstieg der gesamten Tour. Am Gipfel blies der Wind kalt, alter Schnee knirschte unter den Stiefeln.

Die Hütten entlang des E5 tragen oft deutsche Namen. Sie heißen Kemptner Hütte, Memminger Hütte, Braunschweiger Hütte. Das liegt daran, dass der Weg größtenteils durch deutschsprachige Gebiete führt und viele dieser Schutzhütten von deutschen oder österreichischen Alpenvereinssektionen schon vor über hundert Jahren gebaut wurden.

Selbst in Südtirol, wo die Tour endet, haben sich diese Namen gehalten. Es ist ein Stück Bergsteigertradition.

Der letzte Tag brachte Ninas höchsten Punkt: die Similaunhütte auf 3.016 Metern. Die Sicht war klar und belohnte sie mit einem fantastischen Blick in die Ferne über Täler und Berggipfel hinweg. Murmeltiere begleiteten ihren Abstieg nach Italien. Unten, in Meran, war es warm, fast mediterran.

Eine Woche zuvor hatte sie sich in Österreich von ihrer Familie verabschiedet, nun würde sie bald wieder bei ihnen sein. Ihr elfjähriger Sohn hat schon gefragt, ob er irgendwann mitkommen darf. „In ein paar Jahren gerne“, sagt sie und lacht.

„Es geht nicht darum, die Schnellste oder Mutigste zu sein, sondern man findet sich selber“, hat Nina Ueberheide in ein Tagebuch notiert, welches sie auf ihrem Weg begleitet hat.

Vielleicht wandert sie eines Tages noch bis Verona. Aber erstmal wartet schon das nächste Abenteuer. Im kommenden Jahr will sie nach Island.

Doch noch fesselt sie ihr letztes Abenteuer: „Ich hänge gedanklich immer noch im E5“, sagt sie. „Ich hätte am liebsten schon wieder meine Schuhe an und würde einfach weitergehen.“

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