Mit dem Zweiten schützt man besser
Der digitale Patientenzwilling soll zeigen, wie medizinische Therapien je nach Risikoprofil wirken

Der Patient wird transparent: Der digitale Zwilling könnte die medizinischen Möglichen erheblich erweitern.Foto: Owen Beard / Unsplash
Berlin. Krankheiten früher erkennen, Diagnosen verbessern und Komplikationen vorhersehen – die Potenziale des Digital Patient Twin (DPT), zu deutsch: „Digitaler Patientenzwilling“, sind immens. Er simuliert auf Grundlage von Daten des Patienten oder der Patientin unter anderem Behandlungswege – inklusive möglicher Komplikationen. Damit kann er dem Arzt oder der Ärztin, aber auch den Patientinnen und Patienten als Entscheidungshilfe dienen und verbessert somit die Patientensicherheit. DPTs haben das Potenzial, die Gesundheitsversorgung grundlegend zu verändern.

Eigentlich ist der digitale Zwilling eine Technologie aus dem Ingenieurbereich. Firmen wie Boeing oder Siemens verwenden sie, um Fertigungsprozesse zu überwachen oder Wartungspläne zu optimieren. Im Bauwesen werden sie beispielsweise im Bereich Smart Cities eingesetzt, in der Landwirtschaft können Felder so effizienter und präziser bewirtschaftet werden. Nun sollen sie also auch die Medizin besser machen.

Molekularmedizinerin Theresa Ahrens forscht am Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering zur Digitalisierung im Gesundheitswesen. Sie leitet die Abteilung „Digital Health Engineering“ und sieht großes Potenzial bei den DPTs in der Prävention und Gesundheitsvorsorge.

„Gesundheit ist ein abstraktes Thema und schwer zugänglich. Die wenigsten können sich tatsächlich vorstellen, wie sich eine Entscheidung etwa für gesunde Ernährung oder Rauchen auf unsere Gesundheit auswirkt“, sagt Theresa Ahrens. „Unsere Hoffnung ist, dass der DPT dieses Feedback besser veranschaulichen kann.“ Es geht also letztlich darum, zu visualisieren, was Entscheidungen im Jetzt für die Gesundheit in der Zukunft bedeuten können.

Der DPT geht über die elektronische Patientenakte hinaus. „Ein DPT ist das virtuelle Abbild einer Person, in dem verschiedene Datenquellen wie Arztberichte oder Fitnessuhr-Daten zusammengeführt, mit modernen KI-Verfahren miteinander verrechnet und Vorhersagen getroffen werden.“ Digitale Schattenbilder, also reine Datensammlungen wie die elektronische Patientenakte, geben selbst kein Feedback. DPT beschreibt also auch ein System, in dem Patient oder Patientin, medizinisches Personal und DPT in ständigem Austausch stehen.

„Die Ärzteschaft kann beim DPT direkt sehen, ob Medikamentenunverträglichkeiten bestehen, oder simulieren, wie ein Medikament oder eine Behandlung vertragen werden könnte – das könnte das Risiko minimieren, dass es zu Komplikationen kommt“, so Theresa Ahrens. „Auch könnte medizinisches Personal mit DPTs risikofrei lernen.“ DPT sei in Deutschland noch in der Anfangsphase. Es gibt aber bereits klinische Studien, die den Effekt untersuchen.

Einer Beobachtungsstudie, die im Fachmagazin „Nature“ publiziert wurde, zufolge haben DPTs bei Diabetes-Typ-2-Personen positive Effekte auf die Therapie. Nach einem Jahr sank der HbA1c-Wert, also der durchschnittliche Blutzuckerspiegel der vergangenen drei Monate, der 1853 Teilnehmenden signifikant. Sie mussten auch weniger blutzuckersenkende Medikamente zu sich nehmen, die Glukosewerte besserten sich, und die Teilnehmenden nahmen Gewicht ab.

Das Erfolgsrezept der DPTs? Dem richtigen Teilnehmer zur richtigen Zeit die richtigen Lebensmittel vorschlagen – so das Fazit der Forschenden. Der Grad der Personalisierung gehe über die Möglichkeiten herkömmlicher CGM- und Ernährungsinterventionen hinaus. Was den DPT-Ansatz so wirksam mache, sei die „Fähigkeit, eine hochgradig maßgeschneiderte und dynamische Antwort auf die spezifischen Stoffwechselbedürfnisse einer Person zu geben“. Auch an der Universität Hamburg läuft seit 2024 ein DPT-Projekt, das bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes helfen soll.

Forschende aus Australien argumentieren in der Fachzeitschrift „Wiley Interdisciplinary Reviews“ für DPTs in der Krebstherapie. Sie würden eine „patientenzentriertere, präzisere und individuellere Versorgung“ ermöglichen und Entscheidungen erleichtern.Ein Faktor, der für Molekularmedizinerin Ahrens hierzulande eine Lücke schließen könnte: Denn die Digital Health Data Literacy, also die Fähigkeit, digitale Gesundheitsdaten zu lesen, zu interpretieren und kritisch einzuordnen, sei in der deutschen Bevölkerung sehr gering. Theresa Ahrens sieht „einen großen Nachholbedarf gegenüber anderen europäischen Ländern“.

Durch DPTs würden die Prozesse für Patientinnen und Patienten transparenter werden, sie könnten sich besser und schneller informieren. Auch gäbe dieser einen Überblick über die ganzen Daten und Befunde, der visuell schnell erfasst werden könnte. „Deswegen ist es auch wichtig, bereits die Softwareoberflächen nutzungszentriert zu planen“, sagt Ahrens.

In Deutschland ist DPT jedoch noch in der Anfangsphase. „Bevor DPTs in das deutsche Gesundheitssystem implementiert werden können, ist allein regulatorisch noch viel zu tun“, sagt Theresa Ahrens. Die Datensicherheit müsse gewährleistet werden, aber auch die Datensouveränität. Auch gebe es ethische Bedenken. „Wenn mein DPT beispielsweise vorhersagen kann, dass ich relativ früh an Alzheimer erkranke, ist das eine Information, die ich im Alter von 20 Jahren vielleicht noch gar nicht wissen will.“ Ein DPT müsste also auch das Recht auf Nichtwissen technisch abbilden können. Aber: „Die Potenziale sind so enorm, dass man sich von Datenschutzbedenken nicht direkt abhalten lassen sollte.“

Auch müsse man die Schwächen der KI mitdenken. Denn theoretisch könnten DPT auch ein Mittel gegen die Benachteiligung sein. „DPTs würden es zukünftig möglich machen, Medikamente auch für Gruppen, die sonst in der Forschung benachteiligt werden, wie Frauen oder Kinder, relativ schnell und sicher virtuell zu testen“, so Theresa Ahrens. Aktuell werden die meisten Medikamente an Männern getestet. Frauen benötigen aber oft eine ganz andere Dosierung. „Das Problem ist aber: Wir haben aus den Patientengruppen Kinder und Frauen zu wenig Daten, um die KI-Modelle zu validieren oder um sie sicher zu entwickeln.“ Das führe dazu, dass sich die Diskriminierung auf KI-Modelle überträgt.“

Die Verlässlichkeit der KI-Vorhersage sei immer eine Frage der Daten, auf die sie zugreifen kann. „Je besser die Daten, desto besser die Vorhersage. Viele Gesundheitsdaten sind aber noch gar nicht digitalisiert, geschweige denn ist klar, inwiefern man beispielsweise auch Daten aus der Kultur und Historie einfließen lassen muss, um KI-Modelle auch auf andere Bevölkerungen übertragen zu können“, warnt die Medizinerin. Außerdem sei es wichtig, nicht in einen „technischen Blindflug“ zu kommen. „Wir alle sollten unsere menschlichen Fähigkeiten weiter schärfen, ausbilden und erhalten und beispielsweise den Signalen unseres Körpers trotzdem auch weiter vertrauen.“

Druckansicht