Für Dietmar Bär wäre das „eine gruselige Vorstellung“, sagt er. Der Schauspieler sitzt im blaukarierten Hausmantel in einem grauen Ohrensessel auf der Bühne der Peiner Festsäle, rote Socken in schwarzen Lackschuhen, neben ihm eine flackernde LED-Kerze. Der auch als „Tatort“-Ermittler im TV bekannte Schauspieler liest vor etwa 350 Zuschauern Heinrich Bölls Satire „Nicht nur zur Weihnachtszeit“. Begleitet wird er von dem klassischen Schlagzeuger und Klangkünstler Stefan Weinzierl auf E-Bass, Schlagzeug und Marimba.
„Nicht nur zur Weihnachtszeit“ ist 1952 erschienen und nimmt bissig die deutsche Nachkriegsmentalität und Weihnachtsbräuche aufs Korn. Bär spielt den gutbürgerlichen, spießigen Erzähler perfekt. Ein Reaktionär, der detailliert und pikiert von den „Verfallserscheinungen“ in der Familie des Onkels Franz berichtet.
Tante Milla hatte sehr unter den Kriegsjahren ohne Baum und Weihnachtszauber gelitten. 1946 gibt es endlich wieder einen Baum. Als nun aber der Weihnachtsbaum im Februar 1947 abgeschmückt werden soll, beginnt Tante Milla zu schreien - und hört nicht wieder auf.
Kein Arzt kann helfen. In seiner Verzweiflung stellt Onkel Franz einen neuen Baum auf. Die „Tannenbaumtherapie“ hilft – aber Tante Milla besteht darauf, dann auch den Heiligen Abend zu zelebrieren – täglich mit Enkeln, Kindern und dem Pfarrer. Es wird Karneval, Frühling und Sommer, Herbst und wieder Winter. Für Tante Milla konserviert die Verwandtschaft künstlich die Feststimmung, weit über den Anlass hinaus, über zwei Jahre. Immer wieder Heiligabend mit allem Drum und Dran: Weihnachtsplätzchen, Spekulatius, Festbraten, Oh du Fröhliche unter dem mit Zuckerkringeln, Lametta, Engelshaar, und Zwergen geschmückten Baum, sowie einem „silbrig gekleideten rotwangigen Engel“ an der Spitze des Baums, der durch einen geheimen Mechanismus imstande ist, in bestimmten Abständen „Frieden, Frieden“ zu flüstern.
Tatsächlich bleibt die Dauerweihnacht für die Familie nicht ohne Folgen: Cousine Lucie, „bisher eine normale Frau“, wird in der der Zwangsjacke abgeführt, nachdem ein „Spekulatiustrauma“ sie aggressiv werden lässt. Ihr Ehemann Karl sucht nach einem Ort zum Auswandern. Vetter Johannes, eigentlich Rechtsanwalt, bricht mit der Familie und schließt sich der Kommunistischen Partei an, und sogar der herzensgute und vorbildliche Onkel Franz legt sich schließlich „trotz seines hohen Alters eine Geliebte“ zu. Dennoch geht die Weihnachtsfeier unerbittlich weiter.
Zuschauerin Barbara Vollbrecht hat die Konzertlesung insgesamt sehr gut gefallen. Ihr war die Beschreibung der Verwandten am Anfang zwar „etwas zu kleinteilig, aber da kann er ja nichts dafür, wenn Böll das so schreibt“, sagt die 79-Jährige, die ihren Geburtstag feiert. „Dietmar Bärs Stimme ist sehr gut, er liest das toll und die Musik dazu macht es besonders.“ Auch Gottfried Kastner, der seit langem ein Abo beim Peiner Kulturring hat, ist froh, dass er zur Lesung gegangen ist: „Es war sehr kurzweilig. Die Zeit ging so schnell vorbei, und die Verbindung mit der Musik war wirklich spannend.“
Musik und Erzählung bilden eine interessante Symbiose, sind sich alle einig. Und während Bär schmunzelnd vorliest, wie die Familie im Hochsommer bei schmelzenden Kerzen das Weihnachtsfest zelebriert, spielt Stefan Weinzierl „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer“. Die sorgfältige Musikauswahl gibt dem ganzen noch eine andere Ebene. Für den Musiker gibt es nicht viele Weihnachtsstücke, die man so inszenieren kann. „So wie Böll das geschrieben hat, ist das einfach ein Geschenk“, so Weinzierl. „Es ist nicht nur eindimensional Weihnachts-Kitsch, es ist auch nicht nur Klamauk, es ist großartig, total vielschichtig, wenn man genau zuhört“, sagt Weinzierl.
„Es ist eine etwas andere Geschichte. Und immer noch unfassbar aktuell“, betont Dietmar Bär. Auch im Hinblick auf den „Konsumrausch und die Familiendramatik“. Man bekommt am Rande mit, wie es 1949 „im zerbombten, kaputten Köln aussieht“, allerdings ohne wirklich über Krieg zu sprechen. „Es ist ein sehr schöner feiner Stoff und macht die Leute vielleicht auch wieder neugierig auf Böll“, sagt Bär, der zum ersten Mal in Peine ist und die Stadt am Nachmittag „durchforstet“ hat – inklusive einem „erwähnenswerten Bienenstich“ im Café Mitte.
Bärs eigenes Verhältnis zu Weihnachten ist „sehr ambivalent.“ Der Konsumrausch entfremde vieles, sagt er. „Ich glaube fest daran, dass wir alle eine Schnittmenge haben mit Weihnachten, das ist unsere Kindheit.“ Jeder habe da sein „Festplattenprogramm angelegt“, woraus sich die Beziehungen zu später speisen. Es sei also ein „großer Blumenstrauß von Dingen“, die der bekannte Schauspieler mit Weihnachten verbindet.