Es kann bei der Arbeit passieren, beim Autofahren oder während einer Unterhaltung, die uns nicht fesselt: Die Gedanken schweifen ab, malen uns den nächsten Urlaub aus oder beschäftigen uns gedanklich mit allerlei Unwichtigem, das uns durch den Kopf geht. Tagträumen nennt man diesen Vorgang, der unsere Aufmerksamkeit aus der Gegenwart abzieht, für wenige Sekunden oder auch mehrere Minuten.
Die Gedanken schweifen zu lassen ist zunächst einmal ein völlig normaler Vorgang. Jeder Mensch tut es, niemals tagzuträumen ist schlichtweg nicht möglich. Dazu müsste das Gehirn sich ständig im Zustand der Konzentration befinden. Forschende der Universität Harvard haben herausgefunden, dass wir fast die Hälfte unserer Zeit, nämlich 47 Prozent, gedanklich nicht in der Gegenwart sind. Wobei mit dem Tagträumen nicht gezieltes Nachdenken gemeint ist, sondern vielmehr, unseren Gedanken und Assoziationen freien Lauf zu lassen. Dabei ist beides möglich: dass unser Bewusstsein versehentlich abdriftet, obwohl wir eigentlich dabei sind, etwas zu tun, oder dass wir uns erlauben, gedanklich abzuschweifen.
In unserem Gehirn ist in diesem Zustand eine Struktur besonders aktiv, die Default Mode Network (DMN) genannt wird. Experimente haben gezeigt, dass die DMN-Aktivität immer dann zunimmt, wenn wir nicht auf einen äußeren Reiz reagieren und nicht darauf konzentriert sind, eine bestimmte Aufgabe zu erledigen.
In zwei Situationen sind wir besonders anfällig dafür, ins Tagträumen zu verfallen, sagt Christina Jochim, stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung: „Dazu kommt es vor allem dann, wenn unser Gehirn unterfordert ist, also wenn eine Aufgabe nicht unsere volle Aufmerksamkeit erfordert. Oder bei Überforderung, wenn unser Gehirn nicht mehr aufnahmefähig ist.“
Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass das Tagträumen bei der Lösung komplexer Probleme helfen kann. So half es Versuchsteilnehmenden bei einer schwierigen Aufgabe mehr, diese durch eine einfache Tätigkeit zu unterbrechen, als eine Pause zu machen oder daran festzuhalten. Die einfache Tätigkeit erlaubte ihnen, gedanklich loszulassen – was schließlich durch neue Impulse half, die schwierige Aufgabe doch noch zu lösen. In einer anderen Untersuchung zeigte sich, dass es die Kreativität fördert, wenn wir fantasievolle Tagträume haben.
Doch es gibt auch Menschen, die zu exzessivem Tagträumen neigen. Einige Forschende glauben, dass das Krankheitswert hat, und sprechen vom Maladaptive Daydreaming (maladaptivem Tagträumen). Geprägt wurde der Begriff von Eli Somer, ehemals Psychologieprofessor an der Universität Haifa. Er bezeichnet Maladaptive Daydreaming als „exzessives Fantasieren“, das menschliche Interaktionen ersetzt und das berufliche oder private Leben beeinträchtigen kann.
Somer hatte dies vermehrt bei Patientinnen und Patienten beobachtet, die in ihrer Kindheit missbraucht worden waren und sich nun häufig in Traumwelten flüchteten. Offiziell als eigenständige Diagnose anerkannt ist das Maladaptive Daydreaming bis heute nicht. Als Phänomen wird es aber wahrgenommen. Der Cleveland Clinic in Ohio zufolge bedeutet maladaptives Tagträumen, sich exzessiv bis zu stundenlang in sehr lebhaften und detaillierten Tagträumen zu verlieren. Dabei könne es schwerfallen, dieses Verhalten zu kontrollieren. Maladaptive Tagträume träten vermehrt, aber nicht nur in Zusammenhang mit verschiedenen psychischen Störungen auf, etwa bei ADHS, Angst- oder Zwangsstörungen oder dissoziativen Störungen.
Auf der Internetplattform „wild minds network“ tauschen sich Menschen aus, die selbst glauben, unter maladaptiven Tagträumen zu leiden. Ein Nutzer namens Mani schildert dort, wie er seit seiner Kindheit jeden Tag stundenlang Fantasieszenarien durchspielt. Er malt sich zum Beispiel detailliert den Alltag mit Frauen aus, die er heimlich anhimmelt. Oder wie er im Hörsaal nach vorn tritt, um allen zu demonstrieren, dass er Superkräfte hat. Gleichzeitig bezeichnet er diese Fantasien als Sucht, für die er sich schämt, auch weil sie sein wahres Leben nur schlechter machten. „Ich wünsche, ich könnte das aufgeben, aber ich kann nicht“, schreibt Mani.
Auch Jochim hat bereits Patienten und Patientinnen gehabt, die wegen anderer psychischer Probleme zu ihr kamen und zum maladaptiven Tagträumen neigten: „Sie erlebten das als Phasen des sehr aktiven Gedankenwanderns, mit meist sehr emotionalen Inhalten.“ Dabei könnten unerfüllte Wünsche durchlebt werden, oder Konflikte würden erneut im Kopf durchdiskutiert.
In die Tagträume würden Betroffene bewusst oder unbewusst hineinschlittern, es falle aber oft schwer, sich davon zu lösen, sagt die Psychotherapeutin. Und es entstehe, anders als beim normalen Tagträumen, ein Leidensdruck, auch weil das Fantasieren so viel Raum einnimmt. „Betroffene sagen, dass sie sich nicht mehr konzentrieren können und sich darin verlieren. Sie fühlen sich schuldig, weil sie so viel Zeit damit verbringen. Außerdem können die emotionalen Inhalte belastend sein.“
Abzugrenzen sei das Tagträumen in jedem Fall von Halluzinationen oder Bewusstseinsstörungen, die bei einer Psychose auftreten können. „Im Unterschied dazu sind sich Menschen beim maladaptiven Tagträumen bewusst, dass es sich bloß um Fantasien handelt“, erklärt Jochim. Es sei auch nicht mit Flashbacks gleichzusetzen, dem intensiven Wiedererleben belastender Ereignisse, das typisch für eine posttraumatische Belastungsstörung ist. Eine Psychotherapie könne helfen, sagt Jochim, wobei es immer zuerst die dringlicheren Symptome zu behandeln gelte, wenn etwa eine Grunderkrankung wie eine Angst- oder Zwangsstörung vorliegt.
Auch die Cleveland Clinic in Ohio empfiehlt, maladaptives Tagträumen mit einer kognitiven Verhaltenstherapie zu behandeln. Es sei vor allem mit psychologischer Unterstützung „möglich, die Tagträume in den Griff zu bekommen“, heißt es auf der Internetseite der Klinik, um die Aufmerksamkeit besser „auf das Leben und das Knüpfen von Beziehungen zu anderen Menschen“ lenken zu können.