Wer „weißer Transporter“ bei Google eingibt, erhält folgende Suchvorschläge: „weißer Transporter Kinderfänger 2024 Sachsen“, wahlweise auch Thüringen oder Berlin, oder ganz allgemein gehalten: „weißer Transporter Kinder ansprechen“. Irgendwo ist offenbar immer ein Pädophiler mit einem Faible für helle Kastenwagen unterwegs, und nur wer tiefer gräbt, stößt auch auf Dementis der Polizei.
Sehnde, Lehrte, Bothfeld, Isernhagen, Barsinghausen, auch Northeim, Göttingen, Hildesheim: eine mutmaßlich nicht vollständige Übersicht über kürzliche Tatorte in der Nähe, wenn man sie denn so nennen möchte. Der Plot ist stets schnell erzählt: Fremde Männer sprechen Kinder an. Der Rest bleibt der Fantasie überlassen.
Und da bietet so ein fensterloser Kastenwagen eben genug Raum für die Urängste von Eltern. Ein Fahrzeug, so gesichtslos und gewöhnlich, dass es eben auch schwer widerlegbar ist. Allerdings auch schwer zu beweisen. „Weiße Lieferwagen sind das Salz in der Suppe von Spekulationen und Angstmacherei“, schrieb schon 2015 die Faktencheck-Seite Mimikama.
Perfiderweise ist jeder Fall bis zu einem gewissen Punkt eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Ein Gerücht, eine Whatsapp: Minuten später weiß die halbe Elternschaft, dass ein Mann, etwa 40 Jahre alt, kurze, schwarze Haare, akzentfreies Hochdeutsch, auf dem Knappenweg in Lehrte einen Neunjährigen angesprochen haben soll (14. August 2023). Wenn dann die Schulen zwangsläufig eine Warnung herausschicken, wenn dann auch die Polizei ermittelt, bekommt die Erzählung einen offiziellen Anstrich. Dann muss ja was dran sein. Oder?
Auch Kommunikationswissenschaftler Helmut Scherer, früherer Direktor des Instituts für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover, schätzt die Glaubwürdigkeit von Whatsapp-Nachrichten für die Nutzerinnen und Nutzer als hoch ein. „Die Menschen sind miteinander verbunden, sie kennen sich. Man geht nicht davon aus, dass hier einem Unsinn erzählt wird.“ Zudem: Die Schilderung ist deutlich weniger haarsträubend als klassische „urban legends“, also Großstadtmythen, wie sie auch schon vor der Erfindung des Smartphones kursierten – etwa jene Erzählung von einem Unbekannten, der angeblich mit einer Aidsspritze durch die Diskotheken schleicht.
Tatsächlich, und das macht die Sache eben kompliziert, beruhen manche der Meldungen in der Region Hannover nachweislich auf echten Sichtungen. Ein Beispiel aus Kirchhorst in Isernhagen: Ein Autofahrer hat am 23. August 2024 ein Mädchen im Grundschulalter angesprochen. Das bestätigt die Polizei, die den Halter des Fahrzeugs ermitteln konnte. Doch dieser habe, so die Behörde, das Mädchen nicht zum Einsteigen in sein Auto aufgefordert, sondern dem Kind den Hinweis geben wollen, dass es mit seinem Roller am Auto vorbeifahren könne. Der Mann hatte jedoch einen Sprachfehler – das Mädchen bekam Angst und holte Hilfe.
Ein offenbar harmloses Missverständnis, aber: „In den sozialen Medien sind jetzt viele falsche Informationen im Umlauf. Das bekommt man kaum wieder eingefangen“, so Stephan Bente, Leiter des Kriminal- und Ermittlungsdienstes im Polizeikommissariat Großburgwedel. Auch Medienexperte Scherer hat diese Beobachtung gemacht: „Gerade Gerüchte über gefährdete Kinder sind solche, die sich schnell verbreiten und denen Vertrauen geschenkt wird. Denn es ist schlimmer, ihnen nicht zu glauben und falsch zu liegen als umgekehrt. Zudem fehlt mit der Dringlichkeit die Zeit für eine rationale Entscheidung.“
Gefährlich wird es, wenn wie jüngst in Hildesheim ein Foto des Lieferwagens in den sozialen Medien kursiert – sowohl das Nummernschild als auch der Fahrer waren darauf zu erkennen. Er soll versucht haben, Kinder in sein Fahrzeug zu locken. Mehr als 22.000-mal ist dieser Post alleine bei Instagram verbreitet worden. Beamte des Einsatz- und Streifendienstes haben den Fahrer schnell ausfindig gemacht, angehalten und kontrolliert. Der 35-jährige Mann war nach Einschätzung der Polizei unterwegs, um bereitgestellten Metallschrott am Straßenrand einzusammeln. Hat jemand gesehen, wie er dabei auch Kinder angesprochen hat? Eine Polizeisprecherin verneinte das. Die Behörde teilte nun ihrerseits einen Beitrag in den sozialen Medien, klärte den Fall auf und appellierte: „Vermeidet die Verbreitung von Gerüchten oder unbelegten Informationen.“ Immerhin gab es hier keinen Mordaufruf gegen den Fahrer – anders als in einem ähnlich gelagerten Fall in Hessen aus dem Frühjahr.
Wo endet Fürsorge? Wo gerät sie aus der Spur und wird zur Angst, schlimmstenfalls zur Hysterie? Die Frage ist kaum eindeutig zu beantworten – nicht zuletzt auch deshalb, weil es schwere Verbrechen gegen Kinder natürlich schon gibt. Wenn auch sehr, sehr selten. Laut Bundeskriminalamt (BKA) waren im Jahresverlauf 2023 rund 16.500 Kinder vermisst. Fast genauso viele Fälle (15.800) haben sich im Jahresverlauf wieder erledigt. Die Aufklärungsquote ist enorm: 99,8 Prozent. Unter den Vermisstenfälle werden etliche Ausreißer erfasst, inklusive unbegleitete Flüchtlingskinder, die aus ihrer Unterkunft abgehauen sind und etwas später wieder auftauchen. „Insgesamt ist festzuhalten, dass tagtäglich zwar viele Kinder als vermisst gemeldet werden, jedoch der Anteil der Kinder, deren Verbleib auch nach längerer Zeit nicht geklärt werden kann, sehr gering ist“, schreibt das BKA. Und in nüchternem Behördendeutsch: Es entstehe „mitunter der Eindruck, dass eine maßgebliche Anzahl vermisster und nicht wieder aufgefundener Kinder Opfer sogenannter Kinderpornografie-Ringe seien. Die in den polizeilichen Datenbanken registrierten Zahlen zeigen jedoch ein anderes Bild.“
Das Fremde, das hinter den Kindern her ist: seit jeher ein klassisches Motiv der Schauermärchen, früher zudem häufig antisemitisch konnotiert. Es teilt die Welt in Gut und Böse, die keine Nachlässigkeit duldet. Hier lauert die Gefahr im Trügerischen, hier wird der Schulweg zur lebensgefährlichen Expedition – Stoff, aus dem die Albträume von Helikoptereltern sind.
Die Wahrheit ist: Täter sind in der Regel schon lange ganz dicht dran. „Meistens kommen sie aus dem sozialen Nahfeld“, erklärt Silvia Langreder, Leiterin der Familienberatungsstelle bei der AWO Region Hannover. „Es ist wichtig, die Menschen dafür zu sensibilisieren, wie der reelle Wissensstand ist.“ Die Täter, das sind eher Väter, Onkel, Nachbarn, Bekannte, jedenfalls selten eine Zufallsbegegnung am Straßenrand.
Wie geht das also mit dem richtigen Maß an Fürsorge und Aufsicht? Der Rat der Expertin: „Eltern sollten auf Verunsicherung reagieren, ohne dabei Elternängste auf die Kinder zu übertragen.“ Es sei wichtig, dass Kinder um ihre Vertrauenspersonen wissen. „Und die Kinder müssen ihre eigenen Grenzen haben: Sie dürfen klar und laut Nein sagen.“