Das Kind will partout nicht ins Bett gehen. Es quengelt, will seinen Schlafanzug nicht anziehen, boykottiert das Zähneputzen. Solche Situationen stellen Eltern jedes Mal vor Herausforderungen – und lassen sie mit der Frage zurück: Wie geht man am besten damit um?
Ein Kind zu etwas zu zwingen ist nicht die Lösung, weiß Pädagogin und Erziehungsberaterin Inke Hummel. Denn oft ist der Grund für das Verhalten der Kinder ein anderer als angenommen. Ein Kind will etwa seine Zähne nicht putzen, weil es übermüdet ist. „Über diese Müdigkeit kann das Kind noch nicht hinweggehen. Es zeigt einfach pur sein Bedürfnis“, erklärt Hummel. Eltern müssten in dieser Situation abwägen, ob es wichtiger ist, sich durchzusetzen, oder ob sie das Zähneputzen mal ausfallen lassen.
Das Verhalten von Kindern zu reflektieren ist ein Grundstein der bedürfnisorientierten Erziehung, dem „Gentle Parenting“. Anstatt sie zu bestrafen und auszuschimpfen, versuchen Eltern, das Handeln ihrer Kinder zu verstehen und darauf zu reagieren. Zur „sanften Erziehung“ gehöre zudem, „dass alle Bedürfnisse zählen, und man schaut, wie man sie verbinden kann“, sagt Hummel. Gemeint sind auch die Bedürfnisse der Eltern.
Wie das in der Praxis aussehen könnte, zeigt Momfluencerin Marlies Johanna in ihren Videos, die sie auf Social Media teilt. Mehrere Hunderttausend Followerinnen und Follower auf Tiktok und Instagram schauen der Mutter zweier Kinder dabei zu, wie sie ihren Alltag meistert – und „Gentle Parenting“ umsetzt. Für sie geht es dabei um eine gewaltfreie und gleichwürdige Erziehung. „Wenn mein Kind bei etwas nicht mitmacht, fange ich nicht an, mein Kind anzubrüllen, sondern gehe kurz in mich und frage mich, was der Grund dafür sein könnte und wie ich die Situation handhaben kann“, sagt Johanna. „Gentle Parenting“ bedeutet nicht, dass die Kinder machen können, was sie wollen, sondern es sollen Grenzen gesetzt werden, die sich richtig anfühlen.
Dafür müssten sich Eltern im Klaren darüber sein, was genau sie durchsetzen möchten und wie sie ihr Kind dabei integrieren können, sagt Pädagogin Hummel. „Ich muss gucken, dass das Kind auch lernt, mal auszuhalten, mal abzuwarten, mal mitzumachen, mal Rücksicht auf mich zu nehmen oder mir zu sagen, was es braucht, damit ich Rücksicht auf mein Kind nehmen kann.“
Bedürfnisorientiert zu erziehen heiße nicht, nie zu schimpfen oder sich nie zu streiten. In bestimmten Situationen müsse man mit dem Kind in den Konflikt gehen – was viele Eltern scheuen würden. Besonders auf Konflikte, die immer wieder auftauchen, müssten Eltern achten und Regelungen finden, die zwar das Kind miteinbeziehen, aber auch unbequem sein können.
Für Hummel stellt die bedürfnisorientierte Erziehung einen guten Mittelweg zwischen autoritärer und laissez-fairer Erziehung dar. „Alles, was wir aus der pädagogischen Forschung wissen, sagt: Je zugewandter und beziehungsstärker wir erziehen, desto gesünder werden die Kinder groß“, sagt die Pädagogin.
Doch wie schafft man es, diesen Mittelweg zwischen streng und locker umzusetzen? „Das ist ein langer Weg, weil wir das vor der Elternschaft nicht gelernt haben“, sagt Hummel. Eltern würden sich mit der bedürfnisorientierten Erziehung schwertun, weil am Anfang viel Engagement dazugehöre.
Zum einen müssen Eltern lernen, ihre Kinder zu verstehen, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und ihnen Strategien beizubringen, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen. Werden die Grundsteine früh genug gelegt, könnten Kinder später zu „Selbstläufern“ werden und die erlernten Routinen selbst anwenden. Zum anderen müssen Eltern an sich selbst arbeiten, sich reflektieren und mit Themen auseinandersetzen, die ihnen vorher vielleicht nicht bewusst waren.
Die bedürfnisorientierte Erziehung ist für Eltern mit viel Arbeit verbunden. „Es kommt auf die innere Haltung an – und an der zu arbeiten ist sehr schwierig, weil man an den eigenen Triggern arbeiten muss. Man muss gucken, wo man selbst mental steht, wie man selbst mit Emotionen umgeht, welche Erziehungsmuster man gelernt hat und wie man sie durchbrechen kann“, sagt Momfluencerin Johanna. Durch eigene Erfahrungen und Selbststudium hat sie sich ihr Wissen zum „Gentle Parenting“ angeeignet.
Wichtig ist dabei, dass die Eltern sich selbst treu bleiben. „Für mich geht es darum, dass ich eine echte Beziehung zu meinen Kindern aufbauen kann und meine Kinder wertschätze, wie sie sind“, sagt sie. Das gelinge nur, wenn man authentisch sei. Habe man keine Lust, mit dem Kind zu spielen, tue es aber trotzdem, merke das Kind, dass man in der Situation nicht man selbst sei.
„Wenn ich in dem Moment aber authentisch sage: ‚Nein, ich will gerade nicht mit dir auf dem Fußboden sitzen und Figuren hin- und herschieben, weil mir das gerade keinen Spaß macht. Aber wenn du gerade Nähe willst, können wir uns gerne zusammenkuscheln und ich lese dir etwas vor‘ – dann kann das Kind eine Beziehung zu einem aufbauen, weil es merkt, wer man ist“, so Johanna weiter.
Es braucht vor allem Zeit, sein eigenes und das Verhalten seines Kindes zu reflektieren. Manche Eltern können diese Zeit in ihrem Alltag nicht aufbringen. Wer wenig Zeitressourcen hat, könne schnell in alte Erziehungsmuster verfallen. „Wenn der Tag zu anstrengend war, wird man irgendwann nachlässig“, sagt Hummel. Doch es gehe nicht darum, eine Liste abzuhaken, sondern um eine Grundhaltung dem Kind gegenüber. „Wenn ich diese einigermaßen verinnerlicht habe, weiß ich auch, dass es nicht so wichtig ist, ob ich mal gebrüllt habe oder ob wir den Konflikt gut gelöst haben. Es kommt auf etwas viel Tieferes an: dass ich versuche, mein Kind und mich selber zu sehen und zu gucken, wie wir das miteinander hinbekommen können.“