Soziale Medien fühlen sich derzeit an, als hätten sie einen Kater. Früher wurden Menschen von Plattformen wie Facebook, Twitter und Tiktok in Scharen angelockt, haben sich hier kreativ ausgelebt, Freundschaften geschlossen und diskutiert. Doch die Stimmung ist umgeschlagen. Jedes große Netzwerk hat in den vergangenen Jahren politische Kontroversen erlebt, es gab Regeländerungen, Besitzerwechsel und Umbrüche beim Publikum.
Der negative Prozess kann schleichend beginnen und dann sehr deutlich spürbar werden. Meist läuft es so: Zuerst wächst das Netzwerk. Hat es sich einen Platz im Leben vieler Menschen erkämpft, versucht es offensichtlich, mehr Geld zu verdienen. Werbung und Geschrei nehmen auf der Plattform überhand. Immer weniger Inhalte in der Timeline sind Updates von Freunden und persönlichen Kontakten.
Der kanadische Autor und Aktivist Cory Doctorow hat einen deftigen Begriff für diese Entwicklung geprägt: „Enshittification“. Und so ist eine idealistische Bewegung ins Rampenlicht gerückt – das Fediverse, eine Zusammensetzung der Wörter Federation und Universe.
Die Idee ist ganz einfach: Verschiedene soziale Plattformen verbinden sich in einem Netzwerk. Alle halten sich dabei an ein allgemein gültiges Protokoll, mit dem sich alle verständigen können: ActivityPub. Es gibt keinen zentralen Ort, von dem aus die Plattformen gesteuert werden. Niemand kann anderen den Hahn abdrehen oder die Regeln für alle ändern.
Die bekannteste Plattform im Fediverse ist Mastodon; es funktioniert so ähnlich wie X (früher Twitter). Doch Mastodon hat keine Firmenzentrale, sondern verteilt sich. Plattformen im Fediverse besitzen verschiedene Anlaufstellen, „Instanzen“ genannt. In vielen Fällen ist der Begriff praktisch gleichbedeutend mit Servern, also mit Rechnern, die Inhalte im Internet bereitstellen. Jede Instanz hat eigene Mitglieder und kann eigene Hausregeln aufstellen. Wer das technische Know-how hat, kann einen eigenen Server aufsetzen und eine eigene Instanz einrichten. Millionen von Menschen sind im Fediverse vernetzt.
Das Internet hat keinen König. Niemand soll es allein beherrschen. Offene Standards helfen, dieses Ideal am Leben zu halten.
Die großen Social-Media-Plattformen hingegen sind geschlossene Netzwerke in diesem offenen Netz. Das birgt Konfliktstoff. Wenn etwa ein Milliardär den wichtigsten Microblogging-Dienst der Welt kauft, ihn umbenennt und die Regeln ändert, können die Nutzerinnen und Nutzer der Plattform nichts dagegen tun. Sie können sich höchstens damit abfinden oder woanders hingehen. Doch der Umzug ist in aller Regel schwierig. Ein Freundeskreis lässt sich nicht einfach von einem Netzwerk zu einem anderen mitnehmen.
Mit dem Fediverse würde aber genau das möglich: Halten sich alle Plattformen an denselben, offenen Standard, wird es grundsätzlich möglich, Kontakte in andere Netzwerke hinein zu knüpfen, zu anderen Plattformen und Instanzen umzuziehen oder selbst Instanzen zu erschaffen und eigene Hausregeln zu erlassen. Plattformen im Fediverse sind grundsätzlich werbefrei und erlauben eine größere Kontrolle über die eigenen Daten.
Inzwischen sind es Millionen Nutzende: Nach Jahren im Schatten hat das Fediverse einen kleinen Boom erlebt. Der anhaltende Social-Media-Frust auf großen Plattformen hat Menschen verjagt, und ein Bruchteil dieses Publikums ist im Fediverse gelandet. Von den mehr als zehn Millionen Menschen, die sich mehr oder weniger oft im Fediverse aufhalten, sind die meisten auf Mastodon unterwegs.
Die Zahl mag groß klingen, ist aber vergleichsweise klein. Eine Milliardenplattform wie Facebook konnte sich zu ihren besten Zeiten so anfühlen, als seien alle dort, von alten Schulfreunden und -freundinnen über Familienmitglieder bis zu den Arbeitskolleginnen und -kollegen. Von diesem Eindruck ist das Fediverse weit entfernt. Es ist zwar möglich und auch gängig, Menschen verschiedener Instanzen zu folgen. Doch insgesamt zieht das Netzwerk bisher nicht die große Allgemeinheit an, sondern bestimmte Interessengemeinschaften.
Ja. Threads gilt als der aktuell schärfste Konkurrent von X und wird betrieben vom gigantischen Internetkonzern Meta. Dass Meta damit kein Geld verdienen will, ist unwahrscheinlich. Und doch hat der Konzern einige Schritte Richtung Fediverse gemacht. Threads arbeitet mit dem Protokoll ActivityPub. Langsam und in Phasen will Meta sein Netzwerk öffnen. Schon jetzt können Mitglieder in den USA, Kanada oder Japan ihre Inhalte mit dem Fediverse teilen.
Doch nicht jede Art von Inhalt kann bisher geteilt werden. Und im Fediverse kann sich jede Instanz aussuchen, welchen Plattformen und Servern sie lieber doch nicht folgen will. Deswegen werden sehr viele Menschen auf Mastodon und Co. nach wie vor keine Inhalte von Threads sehen. Der Dienst von Meta ist aus Sicht mancher eher eine Bedrohung. Er würde die Kultur in den Communitys sicher ändern, denn Threads hat mehr als zehnmal so viele Mitglieder wie der ganze Rest des Fediverse.