Schüsse und Hilferufe aus dem Schulgebäude schrecken am Freitagnachmittag rund um Poststraße und Oldaustraße auf. Polizeiwagen rücken an, halten aber mit Abstand zum Schulgebäude. Die Beamten, mit zweieinhalb Kilogramm schwerem Schutzhelm, Schutzweste und Maschinenpistole im Anschlag, nähern sich in eng beieinander sich vortastenden Vierertrupps zu Fuß dem Tatort.
Vor dem Haupteingang der Schule steht ein rauchender Passat, daneben liegt eine um Hilfe rufende Verletzte, ein Blut verschmierter Mann rennt hysterisch schreiend umher: Ein möglichst realistisches Szenario gehört dazu, wenn die Polizei das „taktische Vorgehen in lebensbedrohlichen Einsatz-Lagen“ übt. Etwa 30 bis 40 Statisten - eingeweihte Polizeibeamte anderer Dienststellen und Mitglieder des DRK - haben Polizeichef Oliver Meyer und sein Organisations-Team aufgeboten, um den Einsatzkräften genau solche „Echtbedingungen“ zu bieten. Innen drin donnert aus Lautsprechern eine entsprechende Geräuschkulisse aus Schreien und Schüssen.
Als erste kommen die Kräfte des Einsatz- und Streifendienstes, später Kollegen der Verfügungseinheit und der Fahndung mit hinzu. Rettungswagen vom DRK fahren den Parkplatz des Finanzamts in sicherem Abstand vor. Die Feuerwehren aus Gifhorn und Neubokel kommen auch. „Kern der Übung ist es, sichere Räume zu schaffen“, erläutert Meyer das Ziel. Die zuerst eintreffenden Beamten des Einsatz- und Streifendienstes sollen dafür sorgen, dass Schüler und Lehrkräfte sicher aus der Gefahrenzone herauskommen.
Dabei gehen die Polizisten mit der Aufforderung liegen zu bleiben an der Verletzten neben dem Auto vorbei zum Haupteingang. „Helft mir, ihr Schweine“, schreit sie ihnen hinterher. Auch der hysterische Mann schimpft und zetert. Doch die Beamten machen es aus Sicht Meyers genau richtig, der Frau nicht zu helfen. „Dem Reflex nicht zu folgen ist schwer“, weiß der Polizeichef. Doch für die Beamten gilt: Lage überblicken, Sicherheit schaffen. Immerhin sind zwei Täter in dem riesigen Gebäude - nur wo? Die Situation bleibt lange unklar und angespannt.
Ein weiterer Bestandteil des Drehbuchs: Die Polizei trägt später gerettete Opfer aus der Schule und bringt sie zum Rettungsdienst beim Finanzamt, immer absichernd mit den Maschinenpistolen. Die Feuerwehr übernimmt die Absperrung der Straßen. Es geht nämlich auch um das Zusammenspiel mehrerer Einheiten und Institutionen. Den Rettungskräften des DRK spielen die Verletzten weiterhin authentisch Hysterie vor - bis in den Rettungswagen.
Öffentlichkeitswirksame Übungen kennt Gifhorn vor allem von der Feuerwehr. Doch auch die Polizei setzt auf regelmäßiges Training, in der Regel allerdings auf Terrain, das nicht so auf dem Präsentierteller liegt. Doch in diesem Fall ging es laut Meyer nicht anders: „Wir wollen es unter möglichst echt wirkenden Bedingungen üben.“
Mit dem Amok-Alarm vor kurzem an einer Schule in Peine, der sich glücklicherweise als Fehlalarm herausstellte, hat die Gifhorner Übung nichts zu tun. „Das ist Zufall“, sagt Meyer. Das Thema Amok hat die Polizei schon länger auf dem Schirm. Immerhin gab es in Gifhorn 2018 bereits einen böswilligen Fehlalarm an der Albert-Schweitzer-Schule.
Die ersten Planungen zur Übung seien bereits vor einem Jahr angelaufen. Solche Übungen, die ja möglichst bis zum Schluss geheim bleiben sollen, brauchen eine gewisse Vorbereitung. In dem Fall sei aber auch noch eine Terminverschiebung hinzu gekommen. Rund 200 Leute waren insgesamt an der Organisation und am Ablauf der Übung selbst beteiligt. Das DRK schminkte die Verletzten realistisch, die Pressestelle der Feuerwehr filmte den Einsatz mit der Drohne von oben für die spätere Auswertung. Zahlreiche Trainer und Beamte der Wolfsburger Inspektion beobachteten den Ablauf mit dem Klemmbrett in der Hand. Auch eine Delegation der Stadtverwaltung war vor Ort. Nicht vorher bestellen musste die Polizei die Schaulustigen auf der Braunschweiger Straße, die kamen von selbst.