Da ist die Regelblutung, die vielen Frauen einmal im Monat Schmerzen bereitet. Da ist die Endometriose, eine Erkrankung, die 5 bis 15 Prozent der Frauen haben und bei der starke Schmerzen alltäglich sind. Migräne trifft Frauen Studien zufolge fünfmal so häufig wie Männer. In der Medizin wird man sich solcher geschlechtsspezifischer Schmerzen inzwischen bewusster. Es sei wichtig, solche „Besonderheiten der Frauen stärker zu berücksichtigen“, so Johannes Horlemann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, in einer Mitteilung anlässlich einer Fachtagung. Das betreffe die medikamentöse Therapie – aber auch die Diagnostik selbst. Denn das Schmerzempfinden von Frauen wird vom medizinischen Personal anders bewertet als bei Männern. Mehr noch: Schmerzen werden bei einer ärztlichen Behandlung oft weniger ernst genommen.
Eine Anfang August in der Fachzeitschrift „PNAS“ veröffentlichte Studie verdeutlicht das Problem. Von einer „Unterbehandlung der Schmerzen weiblicher Patienten“ ist darin die Rede. Mehr als 20.000 elektronische Patientenakten aus Israel und den USA hatten Forschende dafür ausgewertet. Das Ergebnis: 38 Prozent der Frauen, die mit Schmerzen in eine Notaufnahme kamen, erhielten eine Verschreibung für ein schmerzstillendes Medikament. Bei Männern waren es 47 Prozent. Und das in allen Altersklassen, unabhängig davon, ob ein Arzt oder eine Ärztin sie behandelte. Auch mussten Frauen durchschnittlich 30 Minuten länger in der Notaufnahme auf eine Behandlung warten als Männer.
Die Forschenden vermuten dahinter eine geschlechtsspezifische Verzerrung: „Es wird angenommen, dass Frauen ihre Schmerzen im Vergleich zu Männern übertrieben beschreiben.“ Dieses Vorurteil sei unter Männern wie Frauen im medizinischen Dienst weit verbreitet.
Lassen sich die Ergebnisse der Studie auf Deutschland übertragen? Die Notaufnahmen hierzulande erheben keine solche Daten zur Medikamentengabe, erklärte Felix Walcher, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Geschlechtsspezifische Verzerrungen in Notaufnahmen sind hierzulande also nicht wissenschaftlich messbar. Vorurteile gegenüber Frauen könnte es dennoch im deutschen Gesundheitswesen geben.
„Die Ergebnisse der Studie überraschen mich überhaupt nicht“, sagt Sabine Oertelt-Prigione, die seit zwei Jahrzehnten zu geschlechtersensibler Medizin forscht, derzeit an der Universität Bielefeld und der Radboud-Universität Nijmegen in den Niederlanden. Sie kenne eine ganze Reihe solcher Studien, die zeigten, dass es auch im deutschen Gesundheitswesen eine weit verbreitete gesellschaftliche Vorstellung davon gebe, dass Frauen es mit der Beschreibung ihrer Schmerzen eher übertrieben als Männer.
Dabei zeichnen Studien ein anderes Bild: Frauen empfinden tatsächlich tendenziell häufiger Schmerz als Männer – und das nicht nur in Bezug auf Geburt, Menstruation und frauenspezifische Krankheiten. „Dies trifft auf (fast) alle Arten von Schmerzen zu, wie beispielsweise Kopfschmerzen, Migräne und verschiedene Formen von Muskel-, Gelenk- und Knochenschmerzen“, schreibt die Deutsche Schmerzgesellschaft auf ihrer Homepage. Ebenso berichteten Frauen über intensivere und länger andauernde Schmerzen. Und: „Sie weisen zudem eine höhere Schmerzempfindlichkeit und eine niedrigere Schmerzschwelle auf.“
Wieso das so ist? Eindeutige Aussagen dazu zu treffen ist schwierig. Erkenntnisse zu Geschlechterunterschieden in der Schmerztherapie steckten „noch in den Kinderschuhen“. Schließlich seien bis 1988 die meisten Studien ausschließlich an Männern durchgeführt – und Behandlungsempfehlungen ohne weitere Untersuchungen auf Frauen übertragen worden.
Auch Oertelt-Prigione kennt die neueren Studien – und ihre Lücken. „Ich würde solche Daten mit Vorsicht genießen“, sagt sie. Schließlich gingen diese in unterschiedliche Richtungen. Teilweise sei nur mit Mäusen experimentiert worden: Weibliche verzogen darin das Gesicht mehr zur Grimasse als männliche – ein Hinweis auf ein stärkeres Schmerzempfinden, das sich aber nicht einfach auf Menschen übertragen ließe. Es gebe auch Hinweise darauf, dass unterschiedliche Immunzellen für die Schmerzweiterleitung verantwortlich sein könnten. Eindeutig belegt sei bislang durch bildgebende Verfahren nur: „Es gibt verschiedene Rezeptoren, die Schmerz an verschiedene Stellen im Körper weiterleiten und bei Männern und Frauen unterschiedlich ausgeprägt sein können.“
Schmerzen objektiv messbar zu machen ist generell schwierig. „Wenn ich Diabetes habe, kann mein Blutzucker gemessen und darauf basierend eine Therapie angesetzt werden“, sagt Oertelt-Prigione. „Aber bei Schmerzen ist das medizinische Personal darauf angewiesen, was Patienten und Patientinnen schildern.“ Und das sei immer subjektiv, unabhängig vom Geschlecht: „Es gibt auch Frauen mit sehr niedrigem Schmerzempfinden und Männer mit sehr hohem – das lässt sich nicht verallgemeinern.“
Eben weil es keine objektive Bemessungsgrundlage wie bei vielen Krankheiten gibt, sei es unabhängig von der Studienlage entscheidend, ob das ärztliche Gegenüber Patienten und Patientinnen wirklich ernst nimmt. Hierzulande gebe es ein tendenziell paternalistisches Gesundheitssystem, so die Medizinerin. „Man geht davon aus, dass die Ärztinnen und Ärzte am besten wissen, was zu tun ist.“ Dazu komme, dass in Deutschland Schmerz vergleichsweise funktional und pragmatisch beschrieben wird.
In den Niederlanden nehme man die Schilderungen der Erkrankten ernster und lasse diese mehr in die Schmerztherapie einfließen. „Gerade in unserem deutschen Gesundheitswesen könnten Mediziner und Medizinerinnen den Betroffenen manchmal etwas besser zuhören“, fordert Oertelt-Prigione.
Die Forschungsgruppe aus den USA und Israel fordert sogar spezielle Schulungen für Klinikpersonal, um einer Unterversorgung von Frauen mit Schmerzmitteln entgegenzuwirken. Denn wie etwa der Berufsverband deutscher Internistinnen und Internisten auf seiner Homepage erläutert: Schmerzen längerfristig unbehandelt zu lassen kann schwerwiegende Folgen haben. Der Schmerz kann chronisch werden und wird dann noch schwerer zu behandeln. Ständiger Schmerz macht zudem häufig depressiv, ängstlich und verzweifelt.