Der Erfolg der YouTube-Lehrer
Lernen per Video: „In zwei Minuten mehr verstanden als in zehn Jahren Schule”

Lernen mit dem Laptop: Viele Jugendliche sitzen lieber vor dem Bildschirm als in der Schule.foto: Kaboompics.com: Karolina Grabowska / Pexels
Köln. Matrizen austauschen? Polynomfunktionen verstehen? Der Bildungsinfluencer Daniel Jung hat für jede Mathe-Frage eine Drei-Minuten-Antwort im Querformat. Ist YouTube also das bessere Klassenzimmer? Ein Besuch in seinem Kölner Studio.

„So“, sagt Daniel Jung energisch und dreht sich zur Kamera. F(x)=U(x)*v(x) steht hinter ihm am Whiteboard, dahinter ein Greenscreen. „Wir haben hier eine Funktion”, sagt er, und los geht’s: In knapp zwei Minuten splittet Jung die Kombination aus Buchstaben und Zeichen in kleinere Teile - und löst sie dann ganz auf. Als er das Video beendet sieht er zufrieden aus.

Bei ihm wirkt es, als sei es kinderleicht. Zu Hause müsste man wahrscheinlich ein paar Mal auf den Pause-Button drücken, um die Funktion in der nächsten Matheklausur auch selbst ableiten zu können. Aber so ist es ja auch gedacht - denn Daniel Jung ist Bildungsinfluencer, Speaker, Podcaster und Autor.

Seit 2011 erklärt der 43-Jährige Mathematik bei YouTube, seit ein paar Jahren auch bei Tiktok. Er war einer der Ersten, die auf „Nugget“-Lernen setzten - also darauf, Wissen statt in stundenlangen Vorträgen in kleinen Dosen zu vermitteln und gezielt Lücken zu schließen. „Wer nicht weiß, was eine Potenz ist, braucht gar nicht erst mit Kurvendiskussionen anzufangen”, sagt Jung.

Mit diesem Konzept hat er Tausende durchs Abitur gebracht. Unter seinen Videos stehen Kommentare wie „Wenn einer meine Schulzeit gecarried hat, dann sind Sie es!“, „Morgen Mathe-Abi. Danke Daniel, du bist der Beste“ oder „Ich hab‘ in zwei Minuten mehr verstanden als in zehn Jahren Schule“. Jung ist einer der reichweitenstärksten Bildungsinfluencer bundesweit. 937.000 Menschen haben seinen Kanal „Mathe by Daniel Jung” abonniert. Sein beliebtestes Video hat 2,2 Millionen Aufrufe. Er erklärt darin Parabeln und quadratische Funktionen – ein Mittel- und Oberstufenthema.

Inspiriert hat ihn Gilbert Strang. Der US-amerikanische Mathematik-Professor lud seine Vorlesungen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) schon 2005 bei YouTube hoch. Wie bei Strang sind auch Jungs Videos schnörkellos ohne persönliche Bindung. Seine Followerinnen und Follower suchen eben auch schnelle Antworten – keine Freundschaft. „Es soll ja darum gehen, dass man was lernt – und nicht, dass mich alle mögen.“

Digitale Lehrkräfte wie Daniel Jung gibt es viele. Manche sind selbst Lehrer, wie Kai Schmidt (@lehrerschmidt), forschen an der Universität wie Johann Beurich (@dorfuchs) oder zeigen ihr Gesicht gar nicht wie Leon Baar (@100SekundenPhysik). Eine Studie des Rats für Kulturelle Bildung zeigt, wie groß das Interesse an solchen Inhalten schon 2019 war: Demnach nutzt fast jeder Zweite zwischen 12 und 19 Jahren YouTube auch als Hausaufgaben- oder Lernhilfe. „Bildungsmedium der Jugend“ wurde die Plattform damals genannt. Tiktok startete ein Jahr später die Kampagne #LernenMitTikTok.

Dabei ist das Konzept eigentlich veraltet: klassischer Frontalunterricht, lehrerzentriert, wenig Interaktion. Die Erklärvideos sind eine kostenlose Ergänzung. Fragen stellt man in den Kommentaren oder in der Suchmaske – bestenfalls gibt es eine passende Video-Antwort. Das ist auch einer der großen Vorteile: Videos lassen sich an persönliche Vorlieben anpassen, sind immer verfügbar, können beliebig oft angehalten und abgespielt werden. Wer langsamer lernt, schaut häufiger.

Dazu kommt der Schutz der Anonymität. „In der Schule haben viele Jugendliche Angst, durch eine vermeintlich dumme Frage von den Klassenkameraden oder der Lehrkraft stigmatisiert zu werden“, erzählt Jung. „Zuhause sieht niemand, wie oft man sich das Video anschauen muss, um es zu verstehen.“

Mehr als 3700 Videos hat Jung produziert. Er sieht sie mehr als Unternehmer denn als Influencer. 2012 baut er mit einem Freund ein E-Learning-Portal - also eine Website, auf der man sich kostenlos einloggen kann, mit Aufgaben, Erklärvideos und Chatfunktion. Damals war er einer der Ersten. Geklappt hat es nicht. Er denkt, damals einfach zu früh dran gewesen zu sein.

Es ist ein seltsamer Spagat: Auf der einen Seite das Bildungssystem mit seinem Beamtentum, auf der anderen Seite der freie Arbeitsmarkt mit seiner schnelllebigen Startup-Kultur – und irgendwo dazwischen bewegt sich Daniel Jung. Er spannte in den vergangenen Jahren viele Fäden. Mit der Stuttgarter Hochschule der Medien und anderen etwa entwickelt er 2022 den digitialen Lernassistenten „AIEDN“. Er gibt auf Fragen schriftlich Antwort und springt an die passenden Stellen der Lernvideos. Gezielt Wissenslücken mit KI auffüllen – so die Idee. Wie ChatGPT, nur ohne Fake-Inhalte.

Wie und wo macht KI die Schule besser? Was braucht es, damit Kinder besser lernen, Lehrkräfte besser unterrichten können? Das sind Fragen, die Jung umtreiben - nach dem AIEDN-Projekt mehr als zuvor. Er plädiert dafür, Schulen mit KI neu zu denken. „An vielen Stellen kann KI auch Lehrkräften Arbeit abnehmen”, sagt Jung. „Etwa bei Elternbriefen oder beim Entwerfen von Aufgaben.“

Die Vorschläge der KI müssten von der Lehrkraft zwar immer noch überprüft werden, aber immerhin habe man schon mal einen Vorschlag. Doch Jung warnt auch vor Leichtsinn: „Es ist wichtig, dass sich Lehrkräfte weiterbilden und auch die Risiken kennen“, sagt er. Um Risiken und Potenziale von KI im Bildungsbereich einzuordnen, hat das Bundesbildungsministerium ein Expertengremium zusammengestellt. KI sei weder eine „Wunder-Bildungswaffe”, noch mache sie bisheriges Wissen überflüssig, heißt es. Entscheidend sei der „didaktisch sinnvolle Einsatz.

Nicht nur für Jung steckt in Erklärvideos noch ein großes Potenzial. Eine Studie von 2024 zeigt den Effekt von naturwissenschaftlichen Erklärvideos im Unterricht auf die Lernwirksamkeit. Das Ergebnis: Wer mit Videos lernt, lernt signifikant besser.

Ist YouTube also das bessere Klassenzimmer? „Nein“, sagt Jung. „Es braucht den physischen Ort.“ Lernplattformen seien eine wichtige Ergänzung, aber könnten die reale Erfahrung, die echte Begegnung von Lehrkraft und Jugendlichen, nicht ersetzen. Dafür spricht auch der „erheblich negative Trend“ bei Kindern der vierten Klasse nach dem pandemiebedingten Homeschooling, den zum Beispiel der IQB-Bildungstrend 2021 belegt. Daniel Jung betont die Grenzen seines Modells: Plattformen wie YouTube hätten den Nachteil, dass es immer Ablenkung gebe. „Hier das Cookiefenster, da die Werbung“, sagt Jung - und kommt zu einem ganz klassischen Schluss: „Wir brauchen eine ablenkungsfreie Lernumgebung.“

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