Ein Ausflug in die Gifhorner
Vergangenheit und Gegenwart
175 Jahre Aller-Zeitung - und die Familie von Marie Fricke war die meiste Zeit davon immer dabei

110 Jahre altes Foto: Wilhelm Fricke (3.v.r.) aus Gifhorn liest 1915 an der Front in der Ukraine seine Zeitung.Foto: privat
Gifhorn. Die Aller-Zeitung wurde 1850 gegründet, die Gifhornerin Marie Fricke wurde 1937 geboren. Viel erlebt haben beide. Das Besondere: Die Familie von Marie Fricke und die AZ sind seit vielen Jahrzehnten irgendwie miteinander verbunden. Ein Ausflug in Gifhorns Vergangenheit und Gegenwart.

Wenn Marie Fricke die AZ liest, gibt es kein Papiergeknister am Küchentisch. Die 87-Jährige liest die AZ seit 1953, mittlerweile digital auf dem Tablet. In der Familie gehört die Zeitung seit Jahrzehnten zum Alltag. „Mein Großvater hat die schon gelesen. Und ich habe durch die Zeitung erfahren, dass es noch mehr gibt als nur den Gifhorner Koppelweg“, erzählt sie. Das sei wichtig, denn sie wurde nicht nur am Koppelweg geboren, sondern lebt heute noch dort - natürlich mit einigen Unterbrechungen. Aber: „Wenn ich weg war, beispielsweise während meiner Ausbildung zur Landwirtschaftlichen Hausmeisterin und meiner Wanderschaft, habe ich mir die Zeitung nachschicken lassen. Ich musste ja informiert sein“, sagt Marie Fricke, die sich selbst als „Koppelweg-Fricke“ bezeichnet.

Wie wichtig Zeitung für die Familie war und ist, macht Marie Fricke gleich mit einem Foto klar. Es zeigt ihren 1895 in Stederdorf geborenen Vater Wilhelm, der ab 1915 Kriegsdienst leistete. „Drei Winter war er in der Ukraine“, erzählt sie. Auf dem Foto ist er mit Kameraden in einem Unterstand zu sehen - eine Zeitung lesend. Viele weitere Fotos und Feldpostbriefe aus den Jahren hat Marie Fricke in ihren Alben aufbewahrt. „Da war und ist eine große Verwandtschaft, in der viel fotografiert wurde und wird“, erklärt sie. Ihr Vater war übrigens Gifhorner Schützenkönig im Jahr 1936.

Die Ukraine - so eine Art roter Faden, der sich durch ihr Leben zieht. Der Fronteinsatz des Vaters im Ersten Weltkrieg, von dem viel zuhause erzählt wurde. Dann eine Kreuzfahrt nach Petersburg mit einer Schiffscrew, die komplett aus der Ukraine stammte. Seitdem träumt Marie Fricke davon, einmal Odessa zu besuchen. „Bisher habe ich es aber leider nicht geschafft, in die Ukraine zu reisen“, sagt sie. Und das, obwohl sie sehr viel gereist sei in ihrem Leben.

Dafür kam die Ukraine zu ihr, und das nicht nur in Form von Berichten in der Aller-Zeitung. Nach dem Überfall durch Russland wollte sie an geflüchtete Ukrainer eine Wohnung in ihrem Haus vermieten. Zwei junge Frauen kamen. „Aber das passte nicht“, sagt Marie Fricke. Dann kam eine vierköpfige Familie - und mit der lebt sie mittlerweile seit mehr als drei Jahren unter einem Dach. Kürzlich erst hat sie ihren Garten neu strukturiert, damit beide Parteien ihre „eigene Ecke haben“. Dabei wurde auch eine Linde gepflanzt, unter der eine Gartengarnitur steht und unter der gemeinsam gesungen wird.

Damit zum nächsten großen Thema in Marie Frickes Leben - die Musik. Auch da bekam sie viel von zuhause mit. „Meine Mutter Frieda konnte alle alten Küchenlieder“, sagt sie. Marie Fricke selbst sollte Flöte lernen, „hatte aber keine Zeit.“ Die hat sie jetzt zumindest ein wenig mehr, mit der Flöte hat es aber trotzdem nicht geklappt bisher. Dafür ist die „Koppelweg-Fricke“ Mitglied im Heidechor Gifhorn-Neubokel. Und über dessen Chorleiter Paul Schaban lernte sie übrigens auch die Familie aus der Ukraine kennen.

Mutter Frieda, das älteste von zehn Kindern, stammt aus Brenneckenbrück, die Eltern heirateten 1925. Genau ein Jahrhundert ist das her, ein anderes Thema im Zusammenhang mit Brenneckenbrück verfolgt Marie Fricke aktuell in der AZ: Wie geht es mit den Gebäuden an der Bundesstraße 188 weiter? Die von 1936 stammende Allerbrücke an der B188 muss ja erneuert werden. Dazu soll neben der alten Brücke eine Behelfsbrücke entstehen, der bislang ein „Lost Place“ im Wege steht. Seit Jahren bemüht sich die Landesbehörde, das leer stehende Gasthaus zu erwerben, um es abzureißen.

Der Ukraine-Krieg, die Wiedervereinigung Deutschlands, die Erneuerung der Brücke in Brenneckenbrück: Es gibt noch ein Thema, das Marie Fricke in der Aller-Zeitung - und in anderen Medien - verfolgt hat, auch wenn es auf dem ersten Blick nicht viel mit Gifhorn zu tun hat. Am 21. September 1957 sank das frachtfahrende Segelschulschiff Pamir in einem Hurrikan mitten im Atlantik. 80 der insgesamt 86 Besatzungsmitglieder starben bei dem Schiffsunglück. „Das hat mich tief betroffen gemacht“, erzählt sie.

Für diese Betroffenheit gibt es einen guten Grund. Eines der ums Leben gekommenen Mitglieder der Besatzung stammte aus einer Gifhorner Familie. Und der junge Mann - 51 der 86 Besatzungsmitglieder waren Kadetten, insgesamt 45 Besatzungsmitglieder waren zwischen 16 und 18 Jahre alt - hatte mehrere Brüder. „Mit einem dieser Brüder bin ich in die gleiche Schulklasse gegangen“, erzählt Marie Fricke.
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