Daran etwas ändern konnte auch die Tatsache nichts, dass, wie Berger mit schelmischem Lachen erzählt, sein größter (und einziger Fan) ihn vor einiger Zeit allein zurückließ: Im Frühjahr 2024 starb Ehefrau Helga, die Günter zuvor fünf Jahre lang gepflegt hatte. „Es ist nicht leicht“, räumt der Mann ein, der als jugendliche Version seiner selbst eigentlich Gärtner werden wollte, dann aber doch im väterlichen Kfz-Betrieb am Braunschweiger Madamenweg eine Lehre machte, wo „vom Moped bis zum LKW“ alles repariert wurde. „Ich habe von meinem Vater so viel gelernt.“
Später ging Günter Berger zur Handwerkskammer und arbeitete dort fast drei Jahrzehnte als Lehrer für Fachpraxis. Aber das nur nebenbei. Kurz nach Kriegsbeginn geboren, zog er am 28. April 1957 seine erste Lizenz als Radrennfahrer. Auslöser dafür war das Lesen einer Zeitungsanzeige mit der Überschrift „Radsport sucht Talente“, die ein Rennen vom Ortsteil Riddagshausen nach Königslutter und zurück ankündigte. „Dabei war ich eher halber Feldhandballer oder Fußballer.“ Egal. Berger fuhr mit. Auf seinem Opel-Rennrad (ja, es war ein Opel), Baujahr 1928, das er von seinem Vater bekommen hatte und das er später schrottete, als er bei einem anderen Rennen damit in eine ungesicherte Baugrube stürzte.
Apropos: Verletzungen bei der Ausübung seines Sports waren natürlich an der Tagesordnung, zweimal brach sich Berger das Schlüsselbein, einmal das Becken, mal einen Finger oder die ganze Hand: „Aber das ist normal bei Radrennfahrern.“ Vor 50 Jahren baute der Wahl-Lagesbütteler „mit diesen beiden Händen” ein Haus in jenem Ortsteil von Schwülper für sich und seine Familie. „In dem Jahr konnte ich deswegen nur zwei Rennen fahren.“ Bitter für einen, der ansonsten inklusive Training auf 15.000 Kilometer und 30 Starts per anno kam.
Und es war alles dabei: normale Radrennen, Bahnrennen und Querfeldein-Rennen – letztere waren Günter Berger die liebsten. Deshalb organisierte er auch ab 1981 43 Mal die Braunschweiger Cross-Serie, unter anderem Lehndorf und Harxbüttel. Als Fahrer war er „sehr erfolgreich“: Er feierte in den 66 Jahren 85 Siege, wurde 104 Mal zweiter Sieger und landete 117 Mal auf dem Bronze-Rang. Über sein Radrennfahrer-Leben stummes und doch beredtes Zeugnis ablegen können zwei Räume im Haus, einer im Keller, der andere im Obergeschoss. An den Wänden hängen Urkunden und Plakate von Rennsportereignissen, in Regalen stehen Dutzende von Pokalen und liegen Siegerkränze sowie 31 Alben mit Fotos und Zeitungsberichten.
Bergers größter Erfolg war nach eigener Anschauung der Vize-Weltmeistertitel 2005 im Radcross in der Masterklasse in Mol (Belgien). Sein letztes internationales Rennen fuhr er 2016. Nur kurze Zeit war Berger in seinem Radrennfahrerleben A-Fahrer und damit in der höchsten von drei Leistungsklassen: „Ich musste bis 18 Uhr arbeiten. Dann ist das so.“ Das Ehepaar Berger zog drei Kinder groß, einer der beiden Söhne starb im Alter von 30 Jahren an Krebs. Ehefrau Helga war nicht nur Günters Fan, sondern auch seine „Betreuerin“, fuhr, wann immer es ging, mit zu den Rennen: „So eine Frau musst du erstmal finden“, sagt er.
Sein allerletztes Rennen bestritt Berger 2024. Er hörte auf, weil die Kondition nicht mehr reichte, um mit 20 Jahre jüngeren Fahrern in der Seniorenklasse mitzuhalten. Und weil Helga, mit der er 62 Jahre lang verheiratet war, nicht mehr dabei sein konnte: „Ohne sie konnte ich nicht gewinnen.“ Während der Pflege seiner Frau hatte er das Training schon drastisch reduziert. Stattdessen verlegte sich der Radrennfahrer aufs Ablegen von Sportabzeichen „als Hobby“. Goldene, natürlich. „Mein Körper braucht das.“ Gerade sammelt er wieder die nötigen Zeiten und Weiten: Beim Radfahren (20 Kilometer Strecke, 200 Meter Sprint), 30 Mal Seilspringen und einen Medizinball 7,50 Meter weit werfen muss er.
Montags ist er bei der einstündigen Seniorengymnastik beim TSV der Älteste. Und - natürlich - fährt Berger immer noch jeden Vormittag ein bis zwei Stunden mit dem Rad: „Wenn es nicht regnet.“ Mittlerweile auch allein, weil sein Kumpel und Mitfahrer Klaus auch gestorben ist, „an Demenz.“ Günter selbst will „auf alle Fälle 90 werden“. Alles andere kommt nicht infrage. Und auch wenn er mittlerweile in den Radsport-Ruhestand getreten ist, bleibe er für die Lagesbütteler „der Mann von Helga, der immer mit dem Rad durchs Dorf fährt”. Denn „Radrennfahren ist unheilbar. Man muss immer weiter fahren“.