„Kinder dürfen auch mal laut werden“
Sexuelle Gewalt: Wie Eltern angemessen reagieren, ohne Kindern noch mehr Angst zu machen

Erwachsene sind für den Schutz ihrer Kinder verantwortlich.Symbolfoto: Kian Zhang / Unsplash

Kinder werden immer wieder Opfer sexueller Gewalt durch Erwachsene. Therapeut Carsten Müller arbeitet mit Betroffenen und schult Eltern und Fachkräfte. Im Interview erzählt er, was Eltern wissen sollten und, wie sie ihre Kinder stärken können.

Herr Müller, Sie haben mit der Sexualpädagogin Steffi Bohle zusammen das Kinderbuch „Jetzt mal ehrlich!?“ über Missbrauchsprävention geschrieben. Was können Kinder tun, um sich zu schützen?

Die Kinder müssen erst mal gar nichts tun. Für ihren Schutz sind ja nicht sie selbst verantwortlich, sondern wir Erwachsene, und das ist auch richtig so. Und wenn es zu sexualisierter Gewalt kommen sollte, dann ist der Täter oder die Täterin in der Verantwortung. Nie das Kind.

Wo fängt sexualisierte Gewalt an?

Das lässt sich gar nicht so leicht definieren. Sexualisierte Gewalt ist erst mal einfach eine Form von Gewalt. Und jeder Mensch hat ein sexuelles Selbstbestimmungsrecht, das bedeutet: Er darf darüber bestimmen, wer ihn anfassen, küssen, umarmen oder Fotos von ihm machen darf. Wer das nicht beachtet oder gegen den Willen der Person handelt, verhält sich mindestens grenzüberschreitend. Wirklich wichtig ist, dass Kinder verstehen: Jeder Mensch fühlt und entscheidet selbst, ab wann die Grenze überschritten ist. Und wenn das der Fall ist, dürfen die Kinder auch mal laut werden und sagen: Stopp, ich will das nicht.

Wie können Kinder dazu befähigt werden?

Es reicht nicht, nur die Kinder aufzuklären. Erwachsene müssen den Raum dafür schaffen, dass Kinder die Stimme erheben können und ernst genommen werden. Kinder hören leider noch viel zu oft von Erwachsenen: „Jetzt stell dich mal nicht so an, ist ja nur die Oma, die will doch nichts Böses“ und so weiter. Es braucht Erwachsene, die für das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Kinder eintreten und es gegenüber anderen verteidigen.

Wie sollten Eltern denn konkret damit umgehen, wenn das Kind etwa die Wangenküsschen von Oma oder die enge Umarmung vom Onkel nicht möchte?

Das ist wie ein kleiner Verbindlichkeitstest. Wenn die Erwachsenen es nicht schaffen, für die Rechte des Kindes einzustehen und in diesem Beispiel mit der Oma oder dem Onkel zu reden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie als künftiger Gesprächspartner nicht infrage kommen. Diese Art von Gesprächen sind für den Familiensegen nicht immer nur positiv, aber am Ende des Tages ist das nicht das Wichtigste. Kinder lernen an vielen Stellen, dass sie funktionieren müssen. Die wollen nicht immer zur Schule oder in die Kita. Im Alltag und solchen Situationen brauchen Kinder das Gefühl, dass ihre Stimme wertvoll ist.

Warum fällt es Eltern so schwer, über sexuelle Gewalt zu sprechen?

Viele Eltern haben Angst davor, ihre Kinder zu überfordern. Manche fürchten auch: Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftige, desto eher kann es auch meine Familie treffen. Das ist nachvollziehbar, aber stimmt so natürlich nicht. Sexuelle Gewalt trifft Menschen, vollkommen egal, ob sie sich damit beschäftigen oder nicht. Die, die sich damit auseinandersetzen, sind nur besser vorbereitet.

Überfordert es Kinder denn, über diese Themen zu sprechen?

Für Kinder macht es keinen Unterschied, ob ich nun über Sex spreche oder über Bäume oder über Autos oder sexualisierte Gewalt. Das ist ein Sachthema. Die finden das erst mal spannend und wollen mehr dazu wissen. Bei Erwachsenen ist das viel stärker emotional aufgeladen. Kinder bekommen ja ohnehin viel mehr mit, als wir denken, die haben so gute Antennen. Wenn die dann das Gefühl haben, sie können mit Erwachsenen über Themen sprechen, ist das der Beton vom Fundament Prävention. Wichtig ist aber, erst über Sexualität und dann über sexualisierte Gewalt zu sprechen.

Wieso?

Kinder lernen mittlerweile in Kitas und Grundschulen schon, Nein zu sagen oder, dass ihr Körper ihnen gehört. Das ist gut und sinnvoll. Aber der erste Berührungspunkt mit Sexualität sollte nicht sexualisierte Gewalt sein. Sexualität ist erst mal was Schönes, etwas Lebensbejahendes. Das müssen Kinder auch wissen, um sexualisierte Gewalt davon abgrenzen zu können.

Ab welchem Alter sollte man mit Kindern darüber sprechen?

Dann, wenn Fragen aufkommen. Das passiert in der Regel so im Kita-Alter, wenn Kinder schwangere Erzieherinnen sehen oder ein Geschwisterchen bekommen. Wenn es die ersten körperlichen Auseinandersetzungen unter Kindern gibt, so Ende Kita, Anfang Grundschule, sollte man über sexualisierte Gewalt sprechen. Es müssen nicht immer die großen Projektwochen sein.

Kennen sich Eltern selbst genug mit dem Thema aus?

Eltern sind nicht immer so kompetent. Deswegen ist es umso wichtiger, sich da einzuarbeiten, neue Phänomene wie Cybergrooming zu googeln und „Jetzt mal ehrlich?!“ auch erst mal selbst zu lesen. Sie können auch mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin darüber sprechen, wie ihr eigener Umgang mit Sexualität eigentlich ist. Das ist auch eine Möglichkeit, um als Paar eine Sprache zu finden – und mit dem Kind gemeinsam einen Weg zu gehen.

Früher wurden Kinder oft vor dem Fremden im Auto gewarnt, der sie mit Süßigkeiten lockt. In den meisten Fällen kommen die Täter oder Täterinnen jedoch aus dem nahen Umfeld der Kinder. Was sollten Eltern ihren Kindern also sagen?

Die Botschaft, die ich gerne Kindern mitgebe, ist: Rechne damit, dass jeder Mensch sich falsch verhalten kann. Auch deine Eltern. Wichtig ist: Du hast immer das Recht, dich zu beschweren und ernst genommen zu werden. Das gilt für alle Formen von Gewalt, nicht nur für sexualisierte Gewalt. Kinder müssen lernen, dass es in Ordnung ist, auch Menschen in ihrem Umfeld, ihre Familie, ihre Eltern zu kritisieren. Und Eltern müssen das aushalten lernen.

Wenn ein Kind Opfer wird, ist das eine sehr ernste Situation für alle. Wie reagiert man als Eltern angemessen, ohne dem Kind noch mehr Angst zu machen?

Ernst nehmen und direkt sagen: Super, dass du das erzählst. Da kann man sich als Eltern auch mal auf die Schulter klopfen, weil man anscheinend eine gute Vertrauensebene geschaffen hat. Dann sollte man eine Beratungsstelle aufsuchen. Man muss das nicht alles selbst schaffen.

Gibt es Warnsignale, an denen Eltern erkennen können, ob das Kind sexuelle Gewalt erlebt hat?

Es gibt nicht den einen Hinweis. Wichtiger ist: genau hinzuhören, interessiert zu sein an dem Kind und Gesprächsangebote zu machen. Eltern sollten eine Atmosphäre vorleben, in der Grenzen gewahrt werden. Anklopfen und auf das „Herein“ warten, oder reagieren, wenn die Kinder sich bei einer Umarmung steif machen. Dadurch bekommen die Kinder ein Gefühl für ihre Grenzen und können schneller merken, wenn sie nicht gewahrt werden.

Wenn Kinder nicht umarmen wollen, reagieren manche Erwachsene mit emotionaler Erpressung und sagen, dass sie jetzt traurig sind. Was raten Sie denen?Es macht einen großen Unterschied, wenn man vorher sagt: Ich würde dich gerne in den Arm nehmen. Dann hat das Kind eine Chance, zu reagieren. Es ist wichtig, als Erwachsener ein Gefühl dafür zu bekommen, ob das Kind das gerade will oder nicht. Man darf auch Fehler machen, aber man muss die Verantwortung übernehmen und sich entschuldigen, wenn man eine Grenze verletzt hat. Das ist auch der Unterschied zu Tätern oder Täterinnen. Die übernehmen keine Verantwortung für ihre Taten.
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