Der Fall sorgte auch deshalb für Entsetzen weit über Ilten hinaus, weil sich die Polizei erst nach der siebten Tat an die Öffentlichkeit wandte und eine Warnung aussprach. Lehrtes Polizeichefin Ina Nentwig räumte später in einem Interview mit dieser Redaktion ein, dass das ein Fehler gewesen sei. Die Ermittler seien völlig überrascht gewesen, „mit was für einem Täter wir es hier zu tun hatten“, sagte Nentwig. Die Polizei konnte Kevin B. letztlich acht Attacken zuordnen. Doch bloß eine einzige wird nun vor Gericht verhandelt.
Dabei handelt es sich um eine Attacke vom 5. Juli 2023. Damals soll Kevin B. eine 19-Jährige in der Iltener Feldmark von hinten umklammert, ihren Mund fest zugedrückt und sie dann niedergerungen haben. Als die junge Frau auf dem Bauch lag, soll er versucht haben, ihr die Hose auszuziehen. Dafür griff er unter anderem in den Hosenbund der 19-Jährigen. Die Staatsanwaltschaft Hildesheim geht davon aus, dass Kevin B. „sexuelle Handlungen an der Frau vornehmen“ wollte, wie es im Behördendeutsch heißt. Sie wertet diesen Angriff daher als sexuelle Nötigung.
Anders verhält es sich bei den übrigen sieben Attacken. In diesen Fällen geht die Staatsanwaltschaft nur von Nötigung oder Körperverletzung aus und verzichtet auf eine Anklage. Die sieben Fälle würden bei der zu erwartenden Strafe für die sexuelle Nötigung „nicht beträchtlich ins Gewicht“ fallen, teilte die Staatsanwaltschaft Hildesheim auf Nachfrage mit. Die betroffenen Opfer sollen per Brief darüber informiert werden, dass die Verfahren eingestellt werden.
Wann der Prozess gegen Kevin B. beginnen wird, ist indes noch völlig unklar. Da sich der Beschuldigte seit der Festnahme im Juli 2023 wieder im Maßregelvollzug befinde und somit aktuell keine Gefahr von ihm ausgehe, hätten andere Verhandlungen Vorrang, erklärte ein Sprecher des Landgerichts Hildesheim. Es sei nicht ausgeschlossen, dass der Fall erst in einem Jahr oder später verhandelt werde.
Bei einer Verurteilung wegen sexueller Nötigung würden dem Beschuldigten eigentlich bis zu fünf Jahre Haft drohen. Die Staatsanwaltschaft Hildesheim geht im Fall Kevin B. jedoch von einer „erheblich verminderten Schuldfähigkeit“ aus. Der 33-Jährige habe mit der Anordnung einer weiteren Unterbringung im Maßregelvollzug zu rechnen, teilte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft mit.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Gericht die Unterbringung von Kevin B. im Maßregelvollzug anordnen würde. Im August 2008 hatte der damals 17-Jährige eine Nachbarin im Wolfsburger Stadtteil Detmerode hinterrücks attackiert und ihr ein Messer in den Hals gerammt. Die Frau verblutete noch am Tatort, in den Armen ihres Ehemanns. Das Landgericht Braunschweig verurteilte Kevin B. im Februar 2009 wegen Mordes, doch ins Gefängnis kam er nicht. Er habe im Zustand der Schuldunfähigkeit gehandelt, hieß es damals in der Urteilsbegründung.
Kevin B. wurde daher in der Maßregelvollzugsanstalt für Personen mit psychischen Störungen in Moringen untergebracht. Dort wurde er erneut gewalttätig: Im Dezember 2011 attackierte Kevin B. einen Mitpatienten – mit der Absicht, auch diesen zu töten. Das gelang ihm nicht. Das Landgericht Göttingen ordnete erneut eine Unterbringung im Maßregelvollzug an. 2021 stimmten zahlreiche Stellen, darunter Ärzte, die niedersächsische Prognosekommission sowie das juristische Kompetenzzentrum Niedersachsen, einer Entlassung ins Klinikum Wahrendorff zu – eine Fehleinschätzung, wie sich herausstellen sollte. Zu den Attacken auf Frauen in Ilten hat sich Kevin B. bis heute nicht geäußert.