Ihr Lebenslauf ist bunt wie das Leben: Anna Schüßler ist 55 Jahre alt, in Kirchen an der Sieg in Rheinland-Pfalz geboren. Studiert hat sie Jura und klassischen Gesang. Auf den ersten Blick erschließt sich der Weg zur Telefonseelsorge für Außenstehende also nicht. Aber: Die letzten 25 Jahre war sie im Rhein-Main-Gebiet in der Seelsorge an einer Klinik für Psychosomatik, Psychotherapie und Psychiatrie tätig, engagierte sich frühzeitig ehrenamtlich im Bereich Seelsorge. „Ich bin sehr empathisch“, sagt sie selbstbewusst. Menschen gut durch Krisen zu begleiten, diese Erfahrung bringt sie mit. Eine neue berufliche Herausforderung - auch in einer komplett unbekannten Region fern der Heimat - habe sie gesucht. Das geforderte Profil habe sie gereizt. „Das ist Arbeit, die ich gerne mache.“ Ihr Herz brenne für Menschen. Und nach kurzer Zeit auch schon für die Region. „Ich bin sehr positiv überrascht. Es ist landschaftlich sehr schön, kulturell gibt es ein großes Angebot.“
Seit 1. November ist sie im Amt. Zahlen, Daten, Fakten kann sie schon jetzt benennen - und auch erspüren, was die Menschen im Einzugsbereich Gifhorn und Wolfsburg zum Anruf bei der Telefonseelsorge treibt. Und wer überhaupt das Gespräch sucht. Die Statistik in Kürze: Anrufende sind mehrheitlich im Alter zwischen 50 und 70 Jahre, Nutzer des Chats sind Jüngere bis 20 Jahre. Mit zwei Drittel stellen Frauen den Teil der Nutzenden.
Mehr als 10.000 Ratsuchende nutzten vergangenes Jahr die Telefonseelsorge im Einzugsbereich Gifhorn-Wolfsburg, rund 600 den Chat. Ähnlich hoch ist die Zahl derer, die Rat und Unterstützung per Mail suchen. „Die Zahlen sind recht konstant“, erläutert Anna Schüßler. Auch die Verteilung auf die Wochentage zeige keine Auffälligkeit. Zwischen 2 und 6 Uhr schrille das Telefon eher selten.
Auffälligkeiten mit Sicht auf das Jahresende? Mehr Anrufende verzeichne die Einrichtung im Monat Dezember nicht. „Aber wir spüren, dass bei einigen Weihnachten ein belastendes Thema war.“ Ist die VW-Krise schon als Thema bei der Telefonseelsorge angekommen? „Noch ist das nicht spürbar“, sagt Anna Schüßler. Das könnte einen einfachen Grund haben: In der aktuellen Situation würden Mitarbeitende vermutlich eher Kollegen anrufen und sich über Sorgen und Nöte austauschen. „Momentan spürt man eher in Wolfsburg die Solidarität.“ Solidarität, die den meisten Anrufenden jedoch fehle. Weil es niemanden gibt zum Reden.
Einsamkeit sei ein großes Thema bei den Anruferinnen und Anrufern, ein Großteil lebt als Single. An Platz zwei der belastenden Themen stehen Krankheiten. Auch Krisen rund um familiäre Beziehungen sind ein häufiger Anlass, die Hotline zu kontaktieren. „Da geht‘s um Leben und Tod“ - erst vor wenigen Tagen konnte eine Mitarbeiterin jemandem mit Suizidgedanken dazu bewegen, dass umgehend ein Rettungsdienst vorbeikommt. Klar, nicht jede Krise, jedes Problem könne mit einem Telefonat ad acta gelegt werden. Aber Denkanstöße geben, Sinnsuche anstoßen - „da passiert eine Menge“. Übrigens auch bei den Ehrenamtlichen, die sich bei der Telefonseelsorge engagieren. „Das ist eine große Investition in sich selbst“, weiß Anna Schüßler aus den Gesprächen mit dem Helferteam.