„Bei einer Miete von 100 Euro pro Tag müssen die Frauen eine Vielzahl von Freiern bedienen, und das hinterlässt Spuren. Dies führt bereits physisch zu außerordentlichen Belastungen. Die Vorstellung, mehrere Male am Tag Verkehr zu haben, mit unterschiedlichsten Praktikenm muss nicht weiter ausgeführt werden. Was passiert psychisch? Um das auszuhalten, muss man sich innerlich quasi ,abspalten’. Viele Frauen nehmen Medikamente oder Drogen, um nicht zu zerbrechen. Manche sind hoch traumatisiert, wie Menschen, die aus dem Krieg kommen“, ordnet Deimel ein.
Seit etwa zwei Monaten hat das Bordell „Happy End“ in der Zeppelinstraße geöffnet. Betreiber Franco A., der seinen Nachnamen nicht preisgeben möchte, vermietet 20 Zimmer an Prostituierte. Grundsätzlich ist Prostitution in Deutschland legal und bezeichnet das Vornehmen sexueller Handlungen gegen Entgelt oder andere Gegenleistungen. Der Begriff gilt unabhängig vom Geschlecht des Menschen, der sich prostituiert. „Auch wenn die Betreiber von Bordellen anderes suggerieren wollen: Frauen, die ihren Körper anbieten, üben keinen ‚normalen‘ Beruf aus und eine Verharmlosung der Prostitution und der daraus entstehenden physischen und psychischen Konsequenzen für die Frauen lehne ich strikt ab. Sobald ein Freier im Zimmer ist, verzichten die Frauen auf ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Sie sind besonders schutzbedürftig“, so Deimel.
Franco A., der bereits in Braunschweig im Milieu tätig ist, betreibt mittlerweile acht Etablissements mit dem gleichen Konzept. Als Betreiber darf er den Frauen keine Vorschriften machen. Die Prostituierten sind selbstständig und legen ihre Preise selber fest. Doch dass manche wegen eines Schicksalsschlags in das Milieu gerutscht sind, weiß Franco A. Er berichtete beim Rundgang durch das „Happy End“ von einer Frau, die dringend auf das Geld angewiesen sei.
Nach Angaben von Deimel sind in den „Vergnügungsstätten“ Frauen anzutreffen, die aus Bulgarien, Rumänien, Polen und Thailand stammen: „Wir finden hier das Armenhaus Europas. Es handelt sich meistens um arme Frauen mit einem niedrigen Bildungsstatus, die womöglich keine Alternativen kennen, um Geld zu verdienen.“ Der Gleichstellungsbeauftragten zufolge ist Prostitution in vielen Fällen eng verquickt mit organisierter Kriminalität und Menschenhandel. „Manche Mädchen und Frauen werden unter einem Vorwand nach Deutschland gelockt. Ihnen wird im Heimatland zum Beispiel erzählt, dass sie als Kindermädchen oder Reinigungskraft arbeiten. Und in Deutschland werden sie dann zur Prostitution gezwungen.“
In Deutschland ist Prostitution seit 1927 erlaubt. Lange galt sie aber als sittenwidrige Tätigkeit und alles, was über die reine Zimmervermietung hinausging, war strafbar. 2002 trat das Prostitutionsgesetz (ProstG) in Kraft. Dadurch wurden die Rechtsverhältnisse von Prostituierten in Deutschland neu geregelt und die Sittenwidrigkeit abgeschafft. Das Gesetz ordnet die Prostitution als Dienstleistung ein, erlaubt Beschäftigungsverhältnisse und öffnet den Zugang zu den Systemen der sozialen Sicherung.Die Evaluation dieses Gesetzes sowie Erfahrungen aus der Praxis zeigten, dass sich nur ein Teil der Erwartungen erfüllt hat. Seit 2017 sind mit dem Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) deshalb Regelungen für das Prostitutionsgewerbe und für die in der Prostitution tätigen Menschen geschaffen worden. So müssen Prostituierte eine gesundheitliche Beratung wahrnehmen. In Wolfsburg sei das Gesundheitsamt dafür verantwortlich. Die Beratung ist für Prostituierte unter 21 Jahren halbjährlich, für Prostituierte ab 21 Jahren jährlich zu wiederholen. Bei der Beratung erhalten die Frauen eine Bescheinigung zur Anmeldung, die nach Ablauf einer Frist erneuert werden muss. Die persönliche Anmeldepflicht und die gesundheitliche Beratung sei gut, sagt Deimel, damit die Frauen regelmäßig „gesehen“ werden.
Prostituierte können neben der Anmeldebescheinigung mit Klarnamen auf Wunsch eine Anmeldebescheinigung unter Angabe eines Alias erhalten. Dem Betreiber zufolge haben viele Prostituierten im „Happy End“ einen Alias-Namen. Eine Prostituierte, die sich Susi nennt, erzählte der WAZ, dass sie seit zehn Jahren im Geschäft sei. Die 33-Jährige kommt aus Rumänien und habe vorher in Hamburg und Braunschweig gearbeitet.Zum Jahresende 2023 waren bei den Behörden in Deutschland rund 30.600 Prostituierte angemeldet. Doch die Dunkelziffer ist erschreckend. Laut den Schätzungen der Innenbehörden des Bundes und der Länder gibt es rund 250.000 bis 400.000 Prostituierte in Deutschland. „Die Meldepflicht wird also unterlaufen. Und das ist unter anderem möglich, weil die Kontrollen bei den Bordellen angemeldet werden müssen“, erklärt Susanne Deimel.Außerdem sei auch die Zahl der Prostitutionsstätten angestiegen. Im Jahr 2018 gab es 98 Bordelle in Niedersachsen. 2021 waren es bereits 260. In ganz Deutschland gibt es rund 2.000 Bordelle, wie das Statistische Bundesamt mitteilt.
Laut einer Studie sei Deutschland „das Bordell der Welt“, sagt Deimel. „Wegen der vielen Bordelle ist Deutschland ein Reiseziel für Sextouristen. Wir müssen uns als Gesellschaft darüber klar sein, dass Prostitution in erster Linie ein riesiges Business ist, bei dem das Geld nicht bei den Menschen bleibt, die es verdienen.“
In Schweden und Norwegen ist Prostitution verboten. „Doch nur weil es in Deutschland nicht explizit verboten ist, ist es noch nicht gut. Die Eröffnung des Bordells in Wolfsburg kommt in Wolfsburg nicht nur in der Frauencommunity nicht gut an, und die Empörung und das Unverständnis ist riesengroß“, betont die Gleichstellungsbeauftragte.
Das Aussteigen aus dem Milieu ist nicht einfach, erklärt Dagmar Paul-Siller von der Beratungsstelle Solwodi aus Braunschweig. Da die Frauen häufig über keinen eigenen Wohnraum verfügen, können sie von jetzt auf gleich obdachlos werden. Außerdem würden die Frauen oft über keine Rücklagen verfügen und sie seien häufig für den Unterhalt ihrer Familie in den Herkunftsländern zuständig. „In unserer Beratung haben wir bisher noch keine Frau kennengelernt, die gerne in die Prostitution gegangen ist. Sie sagen, der Einstieg sei einfach, der Ausstieg sei schwierig und fast unmöglich“, so Dagmar Paul-Siller.
Das Projekt „Asuna“ der Beratungsstelle unterstützt Frauen aller Nationalitäten beim Ausstieg aus der Prostitution in allen Lebenssituationen. Frauen erhalten beispielsweise intensive Krisen- und Entlastungsgespräche, sie werden beim Umgang mit Behörden unterstützt und bei der Suche nach geeignetem Wohnraum und Arbeitsstellen. Die Stadt Braunschweig stellt der Beratungsstelle ebenfalls eine Wohnung zur Verfügung, in der Frauen zumindest übergangsweise unterkommen können.
Susanne Deimel, die außerdem die Beratungsstelle „KlaRissa“ vom Caritasverband Braunschweig als Anlaufstelle nennt, würde es begrüßen, wenn die Stadt Wolfsburg ebenfalls eine Anlaufstelle einrichten würde. Laut ihr könnte auf bereits vorhandene, gut funktionierende Strukturen wie die Beratungsstelle „Dialog“ oder auch das Gesundheitsamt zurückgegriffen werden. „Wir können nicht verhindern, dass Bordelle eröffnet werden – aber wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die es den Frauen ermöglichen, sich zu informieren und zur Ruhe zu kommen.