Frau Plaschka, sie sind Kautrainerin. Brauchen Menschen denn wirklich Nachhilfe im Kauen?
Ja, leider verlernen viele im Laufe ihres Lebens, gut zu kauen. Kinder lernen das Kauen erst, wenn sie Zähne kriegen. Aber wenn sie damit anfangen, mümmeln sie genüsslich vor sich hin und sind mit allen Sinnen dabei. Das Essen landet nur gut durchgekaut im Magen. Erwachsene sind dagegen häufig Schlinger. Es ist erstaunlich, was sie da alles herunterschlucken, das noch gar nicht richtig gekaut ist.
Warum vernachlässigen wir das Kauen überhaupt?
Das hat vor allem gesellschaftliche Gründe. Schon Kinder hören oft von ihren Eltern, dass sie schneller essen sollen, weil sie schnell irgendwo hinmüssen. Erwachsene passen sich ebenfalls an ihre Mitmenschen an: Wer isst schon gern langsamer, wenn alle Kolleginnen und Kollegen ihr Mittagessen schnell herunterschlingen und ungeduldig werden, wenn man sich Zeit zum Kauen und Genießen nimmt?
Wie problematisch ist denn ungenügendes Kauen?
Zum einen ist unser Verdauungsprozess eine Art Fließbandarbeit – und wir können nicht vom Darm erwarten, dass er die ganze Arbeit allein erledigt. Die Zähne müssen im Mund die Nahrung zerkleinern, damit der Darm die Nährstoffe aus unserem Essen rausholen kann. Zum anderen können wir Sättigungssignale viel besser wahrnehmen, wenn wir uns Zeit zum Kauen nehmen und nur gut gekautes Essen runterschlucken.
Wieso ist das so?
Unser Sättigungssystem ist extrem kompliziert aufgebaut: Über 50 biochemische Substanzen, verschiedene Regelkreise und Organe sind damit involviert. Wenn wir genügend Nahrung zu uns genommen haben, geben sie das entsprechende Feedback weiter zum Zentrum des Sättigungssystems im Gehirn, das uns sagt: Ich bin satt. Aber es braucht eine Weile, bis dieses Signal oben ankommt. Außerdem hat ein gekauter Bissen mehr Volumen als ein ungekauter, ohne dass er mehr Kalorien hat. Das Sättigungssignal erreicht uns also auch schon früher. Wenn wir also besser kauen, können wir dadurch langfristig abnehmen oder unser Wunschgewicht halten.
Wer abnehmen will, muss also nur besser kauen?
Nein, so einfach ist das nicht. Das Wohlfühlgewicht steht auf vier Säulen: Wie viel wir essen, was wir essen, wann wir essen und wie wir essen. Mit drei dieser Säulen beschäftigt sich die Menschheit schon sehr lange: Inzwischen wissen zum Beispiel so ziemlich alle, dass Gemüse gesünder als Tiefkühlpizza ist. Aber das Wie, also das Kauen, behandeln wir immer noch stiefmütterlich.Nur die wenigsten Menschen machen sich Gedanken darüber, dabei kann es die anderen Säulen beeinflussen.
Inwiefern?
Wenn ich meine Sättigungssignale besser wahrnehme, weil ich besser kaue, dann esse ich insgesamt kleinere Portionen. Wenn ich dagegen mein Essen herunterschlinge, esse ich oft zu viel. Ich bemerke nämlich oft erst dann, dass die Portion zu groß war, wenn der Teller schon leer ist. Wenn ich kaue, kann ich mein Essen zudem voller Genuss zelebrieren. Dadurch achte ich mit der Zeit auch viel mehr darauf, was ich esse.
Das müssen Sie erklären.
Angenommen, ich habe Lust auf Schokolade. Viele Diäten würden das verbieten: Ich müsste dann ersatzweise Obst oder Gemüse essen. Das Problem ist aber, dass ich danach weiterhin Lust auf die Schokolade habe. Viel effektiver ist es, wenn wir auf unseren Körper hören und dann einfach ein paar Stücke Schokolade essen – wichtig ist aber, dass wir sie dann voll genießen, indem wir sie ausreichend kauen. Das Resultat ist, dass unser Verlangen danach gestillt ist und wir nicht mehr so häufig Heißhunger auf Schokolade haben. Gleichzeitig können wir durch gutes Kauen gesunde, natürliche Lebensmittel umso mehr genießen.
Wieso sollten uns gesunde Lebensmittel dadurch besser schmecken?
Weil wir gerade durch das Kauen merken, dass hochverarbeitete Lebensmittel auf Dauer nicht das Wahre sind – und natürliche und gesündere Lebensmittel viel besser schmecken, als wir vielleicht denken. Ich hatte mal eine Klientin, die immer gern Butterbrezeln gegessen hat. Nachdem sie über längere Zeit das Kauen trainierte, mochte sie sie aber irgendwann nicht mehr. Wenn wir beim Essen schlingen, ist das so, als würden wir immer nur den Trailer, aber nie den ganzen Film schauen. Unser Geschmackssinn kommt dadurch nie voll auf seine Kosten.
Kommt es im Endeffekt beim Abnehmen dann aber nicht doch vor allem darauf an, was man isst?
Natürlich kann ich mich nicht nur von ungesundem Essen ernähren, wenn ich abnehmen möchte. Eine Tiefkühlpizza bleibt ungesund, auch wenn ich sie gut kaue. Aber es nützt uns nichts, unser Verlangen danach nur zu unterdrücken. Genau das machen aber Diäten mit ihren ganzen Vorschriften.
Besser zu kauen ist also Ihrer Meinung nach besser als eine Diät?
Ja, denn dann arbeiten wir mit statt gegen unseren Körper. Diäten funktionieren auch deshalb nicht, weil es danach zum Jo-Jo-Effekt kommt: Weil wir zum Beispiel unser Verlangen nach Schokolade unterdrückt haben, kommt es umso stärker wieder. Durch gutes Kauen kann ich dieses Verlangen stillen. Außerdem fühle ich mich rechtzeitig satt – deswegen gehen die Kilos auch dann mit der Zeit runter, wenn ich mir ab und an etwas Schokolade gönne.
Wie können wir trainieren, mehr zu kauen und weniger zu schlingen?
Klar ist: Es braucht Zeit, bis man sich das Schlingen abgewöhnt hat. Ich würde niemandem raten, gleich bei der nächsten Mahlzeit zu versuchen, alles ordentlich zu kauen, wenn man zuvor viel geschlungen hat. Um das zu trainieren, genügen fürs Erste drei Bissen von einem beliebigen Lebensmittel. Wichtig ist, dass man sich dabei voll auf den Geschmack konzentriert und darauf achtet, wann der Schluckreflex einsetzt. Ihn kann man jederzeit befriedigen, aber eben nur mit dem, was schon gut gekaut und breiig ist. Den Rest kaut man weiter. Man kann es auch als „geschicktes Zwischenschlucken“ bezeichnen. Wichtig ist, dass Zunge, Geschmackssinn und Schluckreflex lernen, besser zusammenarbeiten. Das braucht ein bisschen Übung. Aber wer das täglich trainiert, integriert es dann automatisch in die Mahlzeiten mit ein.
Wie geht man aber mit dem gesellschaftlichen Druck um, wenn man mehr kaut, die anderen aber schnell ihr Mittagessen essen?
Das Interessante ist, dass wir nicht einmal unbedingt länger essen, wenn wir mehr kauen – schließlich werden die Portionen dann auch kleiner. Unabhängig davon finde ich, dass es niemals das Ziel sein sollte, unbedingt als Erster beim Mittagessen fertig zu werden. Essen ist kein Leistungssport, sondern Genusssport. Wenn ich den ganzen Geschmack mit allen Sinnen fühle, dann habe ich auch größere Freude am Essen. Sie werden schnell merken, dass das tatsächlich ein ganz neues Lebensgefühl ist.