Noch schnell einen Liter Milch besorgen, eine Zahnbürste oder eine Flasche Spüli – für die 1200 Bewohnerinnen und Bewohner von Gülzow, einer Gemeinde im Süden Schleswig-Holsteins, ging das fünf Jahre lang nicht. Nachdem der letzte Betreiber des örtlichen Supermarktes aufgegeben hatte, mussten die Gülzower fahren: Neun Kilometer ins benachbarte Geesthacht oder zehn nach Lauenburg. Bürgermeister Wolfgang Schmahl denkt an diese Zeit nur ungern zurück. „Für unser Dorf ist eine eigene Nahversorgung elementar wichtig“, sagt er. Vor allem für ältere Menschen, die kein Auto fahren, seien die Jahre ohne örtliche Einkaufsmöglichkeit schwierig gewesen.
Seit 2022 gibt es in Gülzow wieder einen Versorger. Tante Enso heißt der kleine Supermarkt, der alles anbietet, was es zum alltäglichen Leben braucht. Die kleinen Läden mit dem Kreis (japanisch: Enso) im Logo tauchen an immer mehr Orten in Deutschland auf. 50 Filialen gibt es bereits, fast alle im ländlichen Raum.
Sie beleben ein Konzept wieder, das eigentlich schon tot war: den Tante-Emma-Laden, der noch vor einigen Jahrzehnten in praktisch jedem Dorf zu finden war und dort die Versorgung mit diversen Lebensmitteln und den Artikeln des täglichen Bedarfs sicherstellte. „Solche Läden, aber auch Bäckereien und Metzger, haben sich aus wirtschaftlichen Gründen aus dem ländlichen Raum zurückgezogen“, sagt Stephan Rüschen, Professor für Lebensmittelhandel an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Heilbronn. Er stellt fest: „Die Versorgung auf dem Land ist schlechter geworden.“
Der Clou an dem neuen Konzept ist, dass nicht mehr „Tante Emma“ hinter der Ladentheke steht, sondern die meiste Zeit niemand. „Nur an wenigen Stunden am Tag sind Mitarbeiter im Laden, in dieser Zeit kann jeder einkaufen, die Einkaufstüren öffnen sich ganz normal“, erläutert Rüschen. Ihre eigentliche Stärke spielen die Geschäfte nach Ladenschluss aus. Dann lassen sich die Türen mit einer Kundenkarte öffnen. Die gibt es nach einer Registrierung kostenlos, und sie wird gleich mit dem Girokonto verknüpft. An der Kasse scannen die Kunden ihre Waren selbst und bezahlen mit dieser Kundenkarte. Das geht – anders als im Supermarkt – an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr.
Smartstores heißen diese Geschäfte, die laut Rüschen einen Wandel in der Lebensmittelversorgung auf dem Land markieren und eine Lösung für kleine Orte wie Gülzow sein können. Neben Tante Enso gibt es Tante-M aus Baden-Württemberg und Teo aus Hessen, die ein ähnliches Konzept verfolgen: wenig Personal, vergleichsweise kleine Ladenflächen – dafür ausgedehnte Öffnungszeiten.
Bei Tante Enso kommt das Genossenschaftsprinzip hinzu, das Kunden binden soll. Bevor ein Laden eröffnet, müssen sich 300 bis 400 Menschen im Ort finden, die Teilhaber der Filiale werden und mindestens 100 Euro investieren. Wer Teilhaber ist, darf mitbestimmen, welche Produkte im Laden liegen oder zu welchen Zeiten Personal anwesend ist. Die Teilhaber kaufen zudem ein wenig günstiger ein.
„Unser Umsatz generiert sich zu großen Teilen aus den Einkäufen der Teilhaber. Das sind Menschen, die sich ,ihrem‘ Laden und dem Ort sehr verbunden fühlen“, sagt Jessica Renziehausen, Teamleitung Marketing vom Unternehmen MyEnso, das hinter den kleinen Läden steckt. MyEnso versucht damit, eine Falle zu umgehen, in die schon viele Betreiber von Kleinstläden getappt sind: dass Kunden das lokale Angebot nur nutzen, um fehlende oder vergessene Kleinigkeiten zu besorgen, und den Großeinkauf beim Discounter in der Stadt erledigen.
Damit aber Kunden auch ihren Wocheneinkauf im Ort erledigen, müssen sowohl Angebot als auch Preise stimmen. 3000 bis 4000 Produkte bietet Tante Enso pro Filiale an. „Wir beziehen unsere Produkte von Rewe, Bela sowie von kleineren Manufakturen und Start-ups. Zudem gibt es auch immer regionale Artikel, die sich unsere Teilhaber wünschen können“, berichtet Renziehausen. Das Standardsortiment, das über den Großhandel bezogen wird, habe ein vergleichbares Preisniveau wie die großen Ketten Rewe oder Edeka. Experte Rüschen sagt, die Produkte seien etwa 10 Prozent teurer.
Trotz Herausforderungen wie Diebstahl und Vandalismus glaubt Handelsprofessor Rüschen an die Zukunftsfähigkeit der Smartstores. Dazu zählt er auch Dorfboxen mit ausschließlich regionalen Produkten, Grab-&-Go-Stores, bei denen eine Kamera erfasst, welche Produkte der Kunde aus dem Regal nimmt und automatisch abrechnet, Automatenkioske oder Robotikboxen, bei denen die Ware an einem Touchscreen gewählt wird und dann in einem Ausgabefach abgeholt werden kann. „Es werden in der Zukunft noch viel mehr solcher Läden aufmachen“, meint der Experte.
Allerdings gibt es eine Sache, die die Tante-Emma-Läden 2.0 in Bedrängnis bringen könnte: Der Sonntag, an dem die Läden geöffnet haben und an dem besonders viel Umsatz gemacht wird, ist rechtlich vielerorts eine Grauzone. In Hessen und in Mecklenburg-Vorpommern dürfen Läden mit bestimmen Flächengrößen öffnen, in anderen Bundesländern werden sie geduldet, solange niemand klagt. Ein Öffnungsverbot am Sonntag würde das Ende der Smartstores bedeuten, da ist sich Rüschen sicher.