Einen Platz für diese Kinder und Jugendlichen zu finden, wird zunehmend schwieriger - zum einen steigen die Fallzahlen, zum anderen sind die Aufnahmemöglichkeiten begrenzt. Hinzu kommt: Es gibt zu wenig Personal, das sich um all die Fälle kümmern kann. „Den Kinderschutz sicherzustellen, hat für uns höchste Priorität“, sagt der Peiner Jugendamtsleiter Maik Zilling. „Und das bekommen wir auch hin.“
Dafür arbeitet das Jugendamt mit einer sogenannten Belastungsampel beim Einsatz der Mitarbeitenden. Steht die Ampel auf Rot, herrscht akuter Personalmangel. Dann fokussieren sich die Mitarbeiter ausschließlich auf den Kinderschutz. Andere Angebote wie Hilfesteuerung und Beratung werden dann zurückgestellt oder nur eingeschränkt geleistet. „Hilfesuchende bekommen aber immer Unterstützung, auch wenn die Wartezeiten länger sind oder die Beratung auch einmal knapper ausfällt“, so Zilling.
Um im Akutfall ein Kind schnell aus einer Familie in Obhut nehmen zu können, „finanziert“ der Landkreis seit fast zwei Jahren feste Plätze bei freien Trägern der Jugendhilfe, die regional und teilweise auch überregional vertreten sind. So gibt es einen festen Platz für Babys und Kinder bis 6 Jahre sowie drei für Jugendliche und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. „Diese Plätze sind für die erste Unterbringung, sie müssen schnellstmöglich wieder freigegeben werden“, erklärt der Jugendamtsleiter. „Dies erfolgt entweder mit einer Rückführung in die Familie oder mit Unterstützung in Form von ambulanten, teilstationären oder stationären Hilfen.“
Und was passiert, wenn in einer Nacht plötzlich vier kleine Kinder aus ihren Familien genommen werden müssen? „Dann haben wir Krisenplan B in petto. Der noch nicht greifen musste und es hoffentlich nie tut“, sagt Zilling. „Das Familienservicebüro ist so gut ausgestattet, dass wir das leisten können. Es gibt Schlafmöglichkeiten, Zahnbürsten, Pampers, es ist alles da.“
Früher sei es unproblematisch gewesen, einen Platz bei einem freien Träger der Jugendhilfe zu bekommen, nun müsse man die 365 Tage im Jahr durchfinanzierten Plätze vorhalten, um handlungsfähig zu bleiben. „Jetzt trägt die Kommune dieses finanzielle Risiko, das aber zum Schutz der Kinder und Jugendlichen in einem mehr als angemessen Verhältnis steht“, erklärt Zilling. Die Alternative, nachts 30 Einrichtungen durchzutelefonieren und keinen Platz zu bekommen, sei keine Option und auch für die Mitarbeitenden eine vermeidbare zusätzliche Belastung.
Einmal sei es während seiner Zeit als Leiter des Jugendamtes vorgekommen, dass Kinder in einem Büro des Jugendamtes haben übernachten müssen. Das sei aber eine absolute Ausnahme. Auch wenn es rechtlich möglich sei, so sei es für die Kinder und Jugendlichen und auch die Mitarbeiter eine unglückliche und herausfordernde Situation. Derzeit stehe man in Verhandlungen um weitere fünf regionale Inobhutnahme-Plätze, die sich das Peiner Jugendamt mit einer anderen Kommune teilen würde. „Wir hoffen, dass wir Ende des Jahres dann insgesamt fünf Plätze vor Ort haben, was für uns in Summe einen zusätzlichen Platz bedeutet.“
Neben den festen Plätzen gibt es auch Bereitschaftspflegefamilien, bei denen die Kinder ebenfalls kurzfristig Schutz finden können. Fünf solcher Stellen gibt es, meist sind sie belegt. Dazu kommen Pflegefamilien, die die Kinder nach der Akutsituation - sollte keine Rückführung in die Ursprungsfamilie möglich sein - für längere Zeit aufnehmen. 60 davon gibt es im Landkreis Peine, hinzu kommen 20 Verwandtschaftspflegen. Insgesamt werden 140 Pflegekinder durch das Peiner Jugendamt betreut, weitere 140 Kinder leben in stationären Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe.
Krieg, Klima- und Coronakrise, gesellschaftliche Entwicklungen und der Druck auf Familien: Der Anstieg der Fallzahlen, die sich auch im Kreis Peine zeigen, habe vielfältige Ursachen. „Die Belastung von Familien, die Erwartungshaltung alles gemanagt zu bekommen, Suchterkrankungen, psychische Erkrankungen - all das hat zugenommen“, führt der Jugendamtsleiter aus. Hinzu kämen immer mehr Kinder, die von seelischer Behinderung betroffen seien, sowie Kinder, die autistische Spektrumsstörungen aufwiesen, eine Schulbegleitung benötigten oder unter Dyskalkulie oder Legasthenie litten. „Die Bedarfe in den Familien sind sehr vielschichtig, oft ist nicht nur ein Teilbereich betroffen“, sagt Monique Falkenhain, Verwaltungsleitung und Stellvertreterin von Zilling im Jugendamt. Hinzu komme, sagt der Jugendamtsleiter, dass das soziale Leistungsdreieck aus den Fugen geraten sei. „Angebote, Rechtsanspruch und Hilfebedürftige - das Verhältnis zueinander stimmt nicht mehr.“
Dabei sei der Sollstellenplan mit rund 27 Vollzeitstellen in den Bereichen der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfe im Jugendamt eigentlich auskömmlich. Das Problem seien nicht zu wenig Stellen, sondern deren Besetzung. „Es gibt einen Fachkräftemangel, den demografischen Wandel, weniger Studierende“, zählt der 58-Jährige auf. Hinzu kämen mehr Aufgaben für die Ämter. „Laut Statistischem Bundesamt waren im Zeitraum von 2006 bis 2019 in unterschiedlichen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe Personalzuwächse von bis zu 67 Prozent zu verzeichnen“, so der Jugendamtsleiter.
Deswegen müsse priorisiert werden. „Was unsere Mitarbeiter leider lernen müssen, ist, dass sie sich davon verabschieden, alles leisten zu können“, sagt Zilling. „Das bedeutet, seine Identität als Sozialarbeiter zwischendurch auch mal zu parken. Und das fällt berechtigterweise sehr schwer“, ergänzt Falkenhain. Denn nur so könne es gelingen, nicht auszubrennen.
Neben der Bewertung der Kindeswohlgefährdung und der Inobhutnahme haben die Mitarbeitenden des Jugendamtes noch zahlreiche andere Aufgaben, etwa Hilfen zur Erziehung, Beratung und Unterstützung für Familien. Auch die Krisenintervention gehört dazu, wenn ein Kind in Obhut genommen wurde. „Einen Tag später wird mit den Eltern gesprochen, ein Schutzplan erstellt, eine stationäre Unterbringung organisiert mit der Option der Rückführung - all das wird geprüft“, erläutert Zilling.
Er ist seit 20 Jahren in der Verwaltung tätig, vorher arbeitete er in einer Wohngruppe. Seit fünf Jahren leitete er das Peiner Jugendamt, davor war er Leiter des Jugendamtes in Gifhorn. „Ich mache meinen Beruf immer noch gerne“, sagt er. „Es geht hier um unsere Kinder und Familien.“
Jubeln würde Zilling, wenn es gelingen sollte, den Soll-Stellenplan für ein bis zwei Jahre konstant besetzt zu kriegen. „Das wäre ein Riesending.“ Um das zu erreichen, hat der Landkreis eine Dauerstellenausschreibung veröffentlicht und auch die befristete Einstellung von Mitarbeitenden in den Sozialen Diensten abgeschafft. „Ohne das Verständnis unserer Verwaltungsführung, insbesondere des Landrats, und die Unterstützung durch den Fachdienst Personal und Service und den Personalrat, wäre dies nicht umsetzbar gewesen“, so Zilling. Eine Maßnahme, die offenbar gefruchtet hat: „Wir hatten zuletzt große Erfolge in Vorstellungsgesprächen“, sagt Falkenhain. „Wir können neun neue Kolleginnen in den Sozialen Diensten begrüßen.“ Allerdings müssten diese erst eingearbeitet werden, was auch zu sehr großen Herausforderungen bei den Mitarbeitenden führe. Und dann gebe es immer noch drei weitere Stellen, die auf ihre Besetzung warteten.