Ehemaliger Obdachloser
aus Peine bekennt:
„Ich bin ganz tief unten“
Doch Uwe Stolz ist Überlebenskünstler – Wie er sich
trotz aller Schicksalsschläge immer wieder aufrafft

Ein Bild mit Symbolwert: Auch wenn man am Rand der Gesellschaft lebt wie Uwe Stolz, ist Rückhalt wichtig.Foto: Ralf Büchler
Peine. In der Adventszeit rücken viele enger zusammen: Lichter im Fenster, leckerer Plätzchenduft, Gespräche in der Familie. Doch während sich andere auf das Fest vorbereiten, gibt es Menschen, deren Gedanken an ganz anderen Orten kreisen. Menschen, die nicht über Geschenke sprechen, sondern darüber, wo sie die nächste Nacht schlafen können. Einer von ihnen ist Uwe Stolz. 62 Jahre alt, freundlich, mit einem entwaffnenden Lächeln. Ein Mann, der gerne lacht und doch jeden Tag darum kämpft, nicht aufzugeben.

Uwe ist ein Überlebenskünstler. Das war er schon immer. Seine Tischlerlehre musste er abbrechen, weil er plötzlich allergisch auf bestimmte Holzsorten reagierte. „Da hast du auf einmal Heuschnupfen im Winter“, sagt er schmunzelnd. Der Vater starb früh, Uwe hat ihn nie kennengelernt. Mit seiner Mutter und den Geschwistern wuchs er auf, arbeitete mal hier, mal dort: bei der Bahn, im Kaufhaus, als Dachdecker, Fensterbauer. Er wollte immer arbeiten, egal wie.

Dann lernte er seine spätere Frau kennen. Vier Töchter bekamen die beiden, später kamen in einer Beziehungspause noch zwei weitere Kinder hinzu, die sie mitbrachte. Uwe nahm sie an, als wären es seine eigenen. Die Familie lebte in einem kleinen Haus in Sonnenberg. Es war kein einfaches Leben, aber ein vergleichbar gutes. Hartz IV, Kindergeld, Gelegenheitsjobs. Irgendwie funktionierte das.

Doch eines Tages brach dieses Leben zusammen. Die Beziehung ging erneut in die Brüche. Das Jugendamt schaltete sich ein, nahm zuerst das jüngste Kind, dann auch Uwes Ziehkinder aus der Familie. „Alles, was ich hatte, war plötzlich weg“, sagt Uwe. „Mein ganzes Leben lag in Trümmern.“ Er suchte gemeinsam mit seiner Frau eine neue Wohnung, doch am Ende stand er allein da und kurz darauf ohne Dach über dem Kopf.

Im August 2019 lebte er zwei Wochen auf der Straße. Er schlief im Park in Peine, auf einer Bank. „Wenn es regnet, ist das nicht so schön“, sagt er leise. „Was macht man da den ganzen Tag? Wohin gehst du?“ Das Kopfkino war sein schlimmster Feind. Abends, wenn die Arbeit vorbei war, kroch die Einsamkeit in jede Lücke. Der Alkohol half, für einen Moment zu vergessen. Aber egal wie viel er auch trank, morgens stand er pünktlich in der Holzwerkstatt der BGB, seiner AGH-Stelle – eine vom Jobcenter geförderte, gemeinnützige Tätigkeit für Menschen, die Bürgergeld beziehen und wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden sollen. Diese Arbeit hielt ihn aufrecht.

Uwe wurde wieder aufgefangen: Die Ambulante Hilfe Peine half bei der Wohnungssuche, die Peiner Heimstätte stellte eine Wohnung bereit. Er lernte neue Kollegen kennen, darunter Geflüchtete aus Syrien, die ihn bis heute grüßen. Später fand er über die Labora gGmbH eine neue Stelle beim Sozialen Kaufhaus. Dort arbeitet er bis heute, holt Möbel ab. Es ist eine Aufgabe, die ihm etwas Stolz zurückgibt. Doch Ende August 2026 endet sein Vertrag erneut. „Was dann kommt, weiß ich nicht“, sagt er. Seine Depressionen bereiten ihm Sorgen. „Meine Psyche spielt Kasperletheater.“

Was ihn trägt, sind seine Ziehkinder. Alle zwei Wochen fährt er sonntags nach Königslutter, besucht die beiden in ihrer Einrichtung. Etwa 50 Euro im Monat kostet ihn das Zugticket. Das ist viel Geld für jemanden, der jeden Euro umdrehen muss. Sie essen dann gemeinsam Eis oder gehen zum Italiener, weil das Mädchen dort Fußball schauen kann. Uwe erzählt mit leuchtenden Augen von den beiden. „Ich bin für sie ihr Vater.“ Und er kämpft für sie: dafür, dass sie zusammenbleiben dürfen, dass sie Freunde finden, dass sie rauskommen aus der Einrichtung. Erst gestern saß er wieder beim Jugendamt.

Zu Hause aber wartet die Stille. „Ich bin ganz tief unten“, sagt Uwe. Früher hatte er Haus und Garten, heute wohnt er allein in einer kleinen Wohnung. Die Einsamkeit ist geblieben. „Es stört mich nicht, allein zu sein“, sagt er und man hört, dass das eigentlich das Traurigste daran ist.

Auch Heiligabend wird er allein verbringen. Ein Fernseher, ein Sofa, ein stiller Abend. Die Kinder wird er aber schon am Sonntag wieder sehen. „Etwas Süßes bringe ich nicht mit. Aber ein bisschen Geld hilft ihnen immer.“

Trotz allem ist Uwe dankbar. Für die Ambulante Hilfe. Für die Menschen im Sozialen Kaufhaus. Für jeden Rat, den er annehmen durfte. Jenny Thiele-Meier von der Ambulanten Hilfe berichtet von der Erstaufnahme: „Das Erste ist: Die Menschen ankommen lassen. Einen Kaffee anbieten. Erst mal durchatmen. Man kann nicht denken, wenn man hungrig ist oder Angst hat.“ Dann sortieren sie gemeinsam das Chaos, Schritt für Schritt.

„Peine hat Obdachlose“, sagt Uwe. „Aber hier muss keiner draußen schlafen.“ Manche wollen es trotzdem, aus Angst, aus Scham, aus dem Wunsch, kurz der Welt zu entkommen.

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