Micropachycephalosaurus, Psittacosaurus oder Therizinosaurus – für einen fünfjährigen Dinofan sind das keine Zungenbrecher. Die Fundstelle des Spinosaurus, die Größe und das Gewicht eines Brachiosaurus, die Zahnlänge eines T-Rex oder die Federn eines Velociraptors – kein Detail scheint dem kindlichen Geist zu abwegig. Für die meisten Mütter und Väter kommt diese Dino-Begeisterung eher einer Überforderung gleich. Schon bei der richtigen Reihenfolge von Trias, Jura und Kreide geraten Erwachsene ins Stolpern. Das elterliche Hirn muss sich schließlich wichtigere Dinge merken.
Gleichzeitig gilt die Begeisterung für Dinosaurier als Paradebeispiel für die Irrungen und Wirrungen kindlicher Neugier. Dass die Wahl dabei auf die Urzeitviecher fällt, liegt aus Sicht von Entwicklungspsychologe Garvin Brod vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation auf der Hand: „Dinosaurier unterscheiden sich von heutigen Tieren und wirken wie aus einer anderen Welt. Man kann ihnen alle möglichen Eigenschaften andichten und sie in magische Welten einfließen lassen“, sagt er. Gleichzeitig gab es die Urzeitechsen wirklich.
Dinosaurier sind nur eins von vielen Themen, für die Kinder ein intensives Interesse entwickeln können – auch Fahrzeuge, Pferde oder Pokémon stehen hoch im Kurs. Forschende schätzen, dass etwa ein Drittel aller Mädchen und Jungen im Laufe der Kindheit ein großes Interesse für ein Thema entwickelt. „Diese starke Form der kindlichen Neugier wird durch Wissenslücken begünstigt. Wenn die Kinder eine passende Lücke finden, entsteht ein großer Drang, sie zu füllen – gerade, wenn sie schon Vorwissen mitbringen und ihr Interesse noch gefördert wird“, sagt Brod.
Es ist also ein Glücksfall, wenn ein neugieriges Kind die Unterstützung und die Möglichkeit bekommt, einem sprichwörtlichen Rabbit Hole, also dem Kaninchenbau, auf den Grund zu gehen. Denn dadurch bekommt es Übung darin, wie man mehr Wissen über etwas erlangt. Und das ist eine Fähigkeit, die man auch später in Schule und Beruf noch gut gebrauchen kann.
Eine Studie der Indiana University sieht in diesem kindlichen Expertentum sogar einen Hinweis auf hohe Intelligenz. Aus Sicht der Forscherinnen und Forscher zeigen diese Kinder eine erhöhte Ausdauer beim Lernen, eine verbesserte Aufmerksamkeit und ein besonders gutes komplexes Denken. Und das könnte sich auch positiv auf den strategischen Umgang mit Problemen im späteren Leben auswirken.
Noch ein Detail haben die Entwicklungspsychologinnen und -psychologen ausgemacht: Oft bekommen die Spezialinteressen mit dem Schuleintritt einen empfindlichen Dämpfer. Bei genauer Betrachtung ist das nicht einmal verwunderlich. Im Kindergarten bleibt den Kindern deutlich mehr Zeit, eigene Erfahrungen zu machen. Die pädagogischen Fachkräfte haben mehr Raum und Freiheiten, um Fragen aufzugreifen. Vorgaben durch Lehrpläne und eine Unterrichtsstruktur gibt es noch nicht.
Den Lehrkräften in der Schule bleibt dagegen deutlich weniger Zeit für individuelle Fragen – auch Räume zum Ausprobieren und Zeit, der kindlichen Neugier nachzugehen, sind begrenzter. Dazu kommt eine veränderte Perspektive auf das Wissen: Eine kleine Dino-Expertin oder ein kleiner Dino-Experte bekommen im Kindergarten positive Rückmeldung für all ihr Wissen. In der Schule sind Grundfähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen deutlich wichtiger. Das sorgt dafür, dass Kinder im Schulalter zwar immer noch neugierig sind und sich in neue Interessengebiete stürzen können – allerdings empfinden sie die Schule nicht mehr als Ort für ihre Neugier. Im Unterricht probieren sie weniger aus, stellen weniger Fragen, bleiben seltener hartnäckig an einem Thema dran und lernen häufiger auswendig.
Das mag auf den ersten Blick gar nicht so schlimm klingen: Schule ist ein Ort des „Pflichtlernens für das Leben“ – und die Freizeit ein Raum für lustvolles Lernen, dem eigenen Interesse folgend. Doch auf die Qualität des Lernens hat das durchaus Auswirkungen.
„Neugier ist vermutlich der beste Weg des Lernens. Man lernt mehr, man lernt tiefer, und man behält es länger. Außerdem macht es mehr Spaß und entsprechend glücklich“, sagt Brod. Kein anderer Weg schafft das – keine Belohnung, keine Bestrafung durch schlechte Noten. Zugegeben: Ganz neu ist diese Erkenntnis nicht.
„Kompetenzen wie Präsentieren, Argumentieren oder Philosophieren bekommen mehr Raum im Schulalltag. Hier lassen sich die Interessen der Schülerinnen und Schüler sehr gut aufgreifen“, berichtet Ruth Jesse von der Stiftung „Kinder forschen“. Im Sachunterricht dürfen die Kinder die Themen ihrer ersten Referate selbst auswählen – egal, ob nun Pokémon, Dinosaurier oder doch Planeten. Wichtiger als das Thema ist die eigene Recherche und die Präsentation. Und mit KI-Unterstützung ist es leichter geworden, individualisierte, angepasste Sachaufgaben für den Matheunterricht oder Erstlesetexte zu erstellen. Im besten Fall steigern auch schon solche Kleinigkeiten die Lernmotivation.
Zu einer vollständigen Individualisierung des schulischen Wissens mit nur rein interessengetriebenen Inhalten führen solche Ansätze übrigens nicht – und das wäre auch kontraproduktiv, findet Brod: „Schule vermittelt aus gutem Grund ein breites Weltwissen. Ohne dieses Allgemeinwissen fehlen uns auch die Inspirationen, die nötig sind, um in das nächste Rabbit Hole zu fallen und ein neues Interesse zu entwickeln.“
Deshalb sei es wichtig, dass auch nach dem Unterricht – in den Familien oder im schulischen Ganztag – Räume für Fragen und Neugier geschaffen werden. „Wir sollten die Kinder zum Fragen ermutigen und versuchen, gemeinsam Antworten zu finden. Oft führt das zu weiteren Fragen, vertieft das Thema – und am Ende lernen beide Seiten etwas Neues“, sagt Jesse. All das geschieht idealerweise in einem entspannten Gespräch – zum Beispiel bei Familien am Esstisch.
Abseits dieser Alltagssituation sei natürlich auch ein Besuch im Naturkundemuseum oder einer Baustelle, das Ausleihen von Büchern zu dem entsprechenden Thema, oder alle anderen Erlebnisse, die das kindliche Interesse aufgreifen oder vertiefen, eine gute Idee. Es reicht, sich für die Neugier des Kindes zu interessieren und Fragen aufgeschlossen und offen zu beantworten.