E., den man in Salzgitter auch unter dem Namen „Pate von Salzgitter“ kennt, trägt selbst den Nachnamen einer großen Clan-Familie in Deutschland. Er gehört zu den sogenannten Mhallami, einer arabischsprachigen Volksgruppe in der Türkei und dem Libanon.
An diesem Prozesstag am Landgericht Braunschweig kommt der „Pate“ allerdings eher unscheinbar daher. Vor allem im Vergleich zu seinen Mitangeklagten. Muskelbepackt wie ein Bodybuilder und tätowiert sitzt ihm „einer seiner besten Männer“, wie er im Verlauf des Tages im Gerichtssaal genannt werden wird, auf der Anklagebank gegenüber. Ein anderer, der nach Angaben der Staatsanwaltschaft bereits wegen Totschlags zu elf Jahren Haft verurteilt ist, provoziert, nachdem man ihm die Handschellen abgenommen hat, aggressiv mit dem hochgestreckten Mittelfinger. Auch die erhöhten Sicherheitsbedingungen – Einlasskontrollen am Eingang zum Schwurgerichtssaal und ein durch Sicherheitsglas abgetrennter Zuschauerraum – zeigen, dass in diesem Fall mit allen Angeklagten nicht zu spaßen ist.
Es ist einer von gleich zwei Prozessen, in denen sich der „Pate von Salzgitter“ zurzeit vor dem Landgericht Braunschweig verantworten muss. Drogenhandel in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel zwischen Mai 2018 und April 2019, hauptsächlich mit einem künstlich hergestellten Cannabinoid namens Spice, wird ihm und drei weiteren Angeklagten, darunter seine Ehefrau, unter anderem vorgeworfen. Der Prozess wird jetzt neu aufgerollt, weil die zuletzt begonnene Hauptverhandlung Corona-bedingt nicht zu Ende geführt werden konnte. Selbst im Landtag war der Fall schon Thema, nachdem die Staatsanwaltschaft im Zuge des Verdachts auf Drogenhandel das Gefängnis sowie mehrere Privatwohnungen hatte durchsuchen lassen. In einem zweiten Verfahren geht es um unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln. Über mehr als 20 Kilogramm illegales Marihuana soll Murat E. mit einem anderen Drogenhändler verhandelt haben.
Bemerkenswert ist: Der zurzeit in U-Haft sitzende 32-Jährige sollte eigentlich gar nicht mehr in Deutschland sein. Der in Hildesheim geborene Schwerkriminelle mit türkischem Pass ist seit 2016 ausreisepflichtig – nach Angaben einer Sprecherin der Stadt Salzgitter ist die Ausweisungsverfügung rechtskräftig, gegen die er sich juristisch gewehrt hat.
Warum steht ein Schwerkrimineller noch in Deutschland vor Gericht, wenn er zu denen gehört, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wohl im Blick hatte, als er im Oktober 2023 „Abschiebungen im großen Stil“ forderte? Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte bereits im Sommer 2023 im Kampf gegen Clan-Kriminalität sogar den Vorschlag gemacht, nicht verurteilte Angehörige krimineller Clans abzuschieben.
Murat E. ist vielfach vorbestraft. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Braunschweig wurden bislang etwa 20 Ermittlungsverfahren gegen ihn geführt. Achtmal wurde er verurteilt, das erste Mal im März 2007, wenige Tage vor seinem 15. Geburtstag. Die Liste der abgeurteilten Straftaten des Mannes, der die Hauptschule besuchte und nach der siebten Klasse ein Abgangszeugnis erhielt, ist nach Angaben der Staatsanwaltschaft Braunschweig lang: Körperverletzung, Bedrohung, Beleidigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Landfriedensbruch, unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, Verstoß gegen das Waffengesetz. Sogar Steuerhinterziehung ist dabei.
In Deutschland ist die Ausweisung von Straftätern nach Paragraf 54 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes geregelt. Das Ausweisungsinteresse wiege besonders schwer, wenn ein Ausländer wegen einer vorsätzlichen Straftat rechtskräftig zu mindestens zwei Jahren Haft verurteilt ist, heißt es dort. In besonderen Fällen gelte dies schon bei einer Strafe von mindestens einem Jahr. Es bestehe bei Murat E. ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß Paragraf 54 des Aufenthaltsgesetzes, bestätigt die Stadt Salzgitter.
Tatsächlich stand die Abschiebung des „Paten“ 2023 sogar unmittelbar bevor. Im August waren nach Angaben der Stadt Salzgitter die nötigen Papiere fertig, es gab sogar einen Termin für die Abschiebung. Zur Ausreise in die Türkei kam es dennoch nicht. Bereits im Vorfeld wurde mit Zustimmung des niedersächsischen Innenministeriums der Flug storniert. Grund dafür war das Veto der Staatsanwaltschaft Braunschweig. Laut Paragraf 72, Absatz 4 des Aufenthaltsgesetzes könne eine Abschiebung bei laufenden Straf- oder Ermittlungsverfahren nur mit Einverständnis der Staatsanwaltschaft erfolgen, sagt Christian Wolters, Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig.
Gerade im Fall des mutmaßlichen Drogenhandels in der JVA Wolfenbüttel, den Murat E. mit seinen Komplizen betrieben haben soll, sei es aber ausgeschlossen, von der Strafverfolgung abzusehen. Dazu sei die angeklagte Tat viel zu schwerwiegend. Der Strafrahmen liege bei bis zu 15 Jahren, in dem zweiten zurzeit angeklagten Verfahren kämen noch einmal bis zu knapp unter zehn Jahren dazu. Man müsse durch eine Aburteilung solcher Straftaten zeigen, dass Drogenhandel in großem Stil von den Strafverfolgungsbehörden entschieden bekämpft werde, insbesondere wenn es sich um solchen im Gefängnis handele, sagt Wolters. Außerdem bedeute eine Abschiebung nicht in jedem Fall, dass man die Person nicht wiedersehe. Häufig reisten abgeschobene Straftäter innerhalb kurzer Zeit illegal wieder ein.
Wie zäh sich eine mögliche strafrechtliche Verurteilung der Taten des „Paten“ am Ende gestaltet, zeigt der Besuch eines Verhandlungstages am Landgericht Braunschweig überdeutlich. Bereits dreimal wurde das seit 2019 anhängige Verfahren vertagt, unter anderem wegen der Corona-Pandemie. Bis Ende Juli 2024 ist es aktuell terminiert, mehr als 30 Verhandlungstage wird es dann gedauert haben.
Polizistin vier StundenMehr als vier Stunden lang wird eine Polizeibeamtin im Zeugenstand an diesem Tag zu den verdeckten Ermittlungen ihrer Behörde in der JVA Wolfenbüttel gehört. Jeder Angeklagte ist mit zwei eigenen Anwälten vertreten. Jedes Detail ihrer Aussage nimmt jeder von ihnen einzeln unter die Lupe. Mehrfach werden ihr Pausen eingeräumt. Am Ende fällt die Entscheidung, dass die Beamtin für einen weiteren Termin für weitere Nachfragen zur Verfügung stehen muss. Für Murat E. wie für alle Mitangeklagten gilt die Unschuldsvermutung. Der Bremer Strafverteidiger des „Paten von Salzgitter“ äußerte sich auf eine Anfrage nicht.
Was passiert aufenthaltsrechtlich, wenn der „Pate“ tatsächlich in einem der beiden Prozesse verurteilt wird? In der Regel könne nach Verbüßung der Hälfte der Strafe zugunsten einer Abschiebung von einer weiteren Verbüßung abgesehen werden, sagt Oberstaatsanwalt Wolters. Für die Reststrafe werde dann ein Haftbefehl erlassen, sodass es bei einer Wiedereinreise sofort zu einer Festnahme und zur Verbüßung des Strafrestes kommen könne. Was sagt die zuständige Ausländerbehörde? Die Stadt Salzgitter lässt sich nicht in die Karten schauen. Fragen dieser Art würden beantwortet, wenn sie anstünden, heißt es vonseiten von Sprecherin Simone Kessner schlicht.