Das Gebäude in der Groner Landstraße 9 ist ein Alptraum. Für seine Bewohner, die mehrheitlich Sozialleistungen beziehen. Für die Nachbarn. Für die Lokalpolitik. Für Ratten hingegen ist es ein Paradies. Kürzlich schlug ein Video Wellen, in dem zwei Jugendliche einen Nager an einer Angelrute schwangen. Keine gute Werbung für den Wohnkomplex, der einen neuen Investor sucht, seit die Mehrheitseigentümerin, eine Immobiliengesellschaft, vor zwei Jahren in die Insolvenz gegangen ist. Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD) hat sich mittlerweile an die Landesregierung in Hannover gewandt. Sie fordert unter anderem eine Deckelung der vom Jobcenter übernommenen Mieten, höheres Bußgeld gegen Eigentümer, die sich nicht kümmern, sowie die Möglichkeit für Kommunen, Mietminderungen geltend zu machen. Noch wartet sie allerdings auf eine Antwort.
Die Groner Landstraße 9 ist mittlerweile weit über Göttingen hinaus bekannt. Sie mag ein extremes Beispiel dafür sein, was mit einer Immobilie passieren kann, die zu sehr ihrem Schicksal überlassen wird. Ein Einzelfall aber ist sie nicht. In ganz Deutschland verwahrlosen Häuser, gelangen als „Schandflecke“ oder „Schrottimmobilien“ zu zweifelhaftem Ruhm. Mal stehen sie leer, mal sind sie überbelegt, so gut wie immer sieht man ihnen den Verfall an. Das Bundesinstitut für Bauwesen und Raumordnung hat sich an eine Definition gewagt: Vereinfacht gesagt könne von einer Problemimmobilie gesprochen werden, wenn ein Gebäude so stark baulich verwahrlost sei oder derart unangemessen genutzt werde, dass „eine Intervention erforderlich“ sei oder sogar geboten erscheine.
Das Problem: Einfach ist das nicht. Oft sind die Eigentümerstrukturen so verästelt, dass Kommunen an ihre Grenzen stoßen. Mal geht es um Geschäftsmodelle, die auf schnelle Rendite setzen, mal darum, massenhaft Zahlungen des Jobcenters abzugreifen. Richtig knifflig wird es, wenn die Besitzer nicht greifbar sind, etwa weil Unternehmen ihren Sitz im Ausland haben. Was das Ganze verschärft: Gerät ein Großeigentümer in Schieflage, können selbst Kleineigentümer, die nur eine Wohnung besitzen, mit in den Abwärtsstrudel gerissen werden. Manchmal fehlt aber auch schlicht das Geld für eine Sanierung.
In strukturschwachen Regionen kommt hinzu, dass es wenig wirtschaftlichen Anreiz gibt, in verfallene Immobilien zu investieren. „Das Phänomen gewinnt aus zwei Gründen an Bedeutung“, sagt Michael Voigtländer, Immobilienökonom vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Erstens gebe es immer mehr schrumpfende Regionen, zweitens seien zunehmende Umweltauflagen eine Hürde: „Eigentümer sehen teilweise keine Möglichkeit, die Auflagen zu annehmbaren Kosten zu erfüllen, und lassen die Immobilie dann verwahrlosen.“
Beispiele ziehen sich durch die ganze Republik. Eine Gesetzeslücke, die es ermöglichte, Schlupflöcher bei Zwangsversteigerungen auszunutzen, wurde im vergangenen Jahr unter der Ampel-Regierung geschlossen. Die schwarz-rote Koalition will nun das Vorkaufsrecht von Kommunen stärken: Städte und Gemeinden könnten bei Verkäufen von Schrottimmobilien eher eingreifen. „Es muss auch für Eigentümergesellschaften gelten“, sagt Ina Scharrenbach, Bauministerin von Nordrhein-Westfalen (CDU). „Zwar sind Änderungen im Koalitionsvertrag verabredet, aber ich erwarte mehr Tempo.“ Scharrenbach hatte in den vergangenen Wochen in Nordrhein-Westfalen kontrollieren lassen. Ziel war laut ihrem Ministerium, das „Geschäftsmodell ,Vermietung von Problemimmobilien zur gezielten Einreise ins deutsche Sozialsystem‘ zu bekämpfen und die im Hintergrund agierenden Personen aufzudecken“.
Das Bundesbauministerium will nach eigenen Angaben die Stärkung des Vorkaufsrechts in der nächsten grundlegenden Reform des Baugesetzbuches angehen. „Die Arbeiten daran laufen bereits“, sagte eine Sprecherin des von Verena Hubertz (SPD) geführten Hauses. Landkreistagspräsident Achim Brötel (CDU) schlägt vor, bei den Jobcentern anzusetzen. „Konkret könnte eine Obergrenze pro Quadratmeter oder pro Wohnung helfen, bei deren Erreichen das Jobcenter keine Kosten mehr übernimmt“, sagt er. Die Bürgergeldreform müsse auch eine Antwort auf den Umgang mit überzogenen Mieten in den sogenannten Schrottimmobilien geben. „Da werden bestehende Gesetzeslücken und bürokratische Verfahren ausgenutzt, um sich zu bereichern“, kritisiert Landkreistagspräsident Brötel.
In Göttingen ist man von einer Lösung noch weit entfernt. Dort hofft Oberbürgermeisterin Broistedt, dass ihr Hilferuf in Hannover Gehör findet. Wie es für die Bewohnerinnen und Bewohner der Groner Landstraße 9 weitergeht, bleibt selbst dann ungewiss.