Anfang April 2023 liefert sich ein damals 45-Jähriger in Leiferde mit der Polizei eine wilde Verfolgungsjagd, bei der er eine Beamtin an- und einen Streifenwagen zu Schrott fährt. Wenn er Ende Februar seinen Prozess vor dem Amtsgericht Gifhorn bekommt, wird er 47 Jahre alt sein. Zwischenzeitlich hatte er im Januar 2024 eine Verurteilung wegen des Besitzes kinderpornografischer Dateien kassiert, die im Zuge der Ermittlungen zu seiner Spritztour in Leiferde sichergestellt wurden.
Es gibt weitere Gifhorner Beispiele dafür, dass die Justiz hinterherhinkt. 22. April 2024, ein lauter Böllerknall erschüttert die Freiherr-vom-Stein-Schule in Gifhorn, es gibt 40 Verletzte, um die sich ein Großaufgebot an Einsatzkräften kümmern muss. Zwei Monate später verkündet die Staatsanwaltschaft Hildesheim, dass gegen drei Jugendliche im Alter von 14 und 16 Jahren ermittelt wird. Auf AZ-Nachfrage Ende Dezember gab es aus Hildesheim – ganz kurz und knapp in einem Satz beantwortet – noch keinen anderen Sachstand. Wann die jungen Beschuldigten herangezogen werden – unklar.
„Eine ganz blöde Situation“, sagt Schuleiter Dr. Detlef Eichner. Ihm sei klar, dass die Justiz zu viel zu tun und zu wenig Leute habe, deshalb wolle er den Behörden auch keinen Vorwurf machen. „Sie ertrinken in Arbeit.“ Doch gerade bei jungen Leuten käme es auf den erzieherischen Effekt nach Entgleisungen an, um daraus zu lernen, dass sie Konsequenzen für ihr Verhalten tragen müssten. Doch dieser Effekt verpuffe mit jedem Tag, an dem – scheinbar – nichts passiere, mehr und mehr. „Es passiert natürlich im Hintergrund eine Menge, nur kriegen sie das nicht mit.“ Die jungen Leute hätten jetzt über Monate den Eindruck, dass sie sich sicher fühlen könnten.
An den Gerichten liegt es wohl weniger, wie aus den Zahlen des Justizministeriums herauszulesen ist. Das Amtsgericht Gifhorn hat demnach einen Bedarf von 10,89 Stellen, der Bestand liege bei 10,5. Das Landgericht Hildesheim kommt auf 43,57 Stellen im Bedarf und auf 41,03 im Bestand, das Braunschweiger auf 65,57 beziehungsweise 65,7. Bei den beiden für Gifhorn zuständigen Staatsanwaltschaften sieht das schon anders aus.
Dass sich dort die Akten türmen, könnte wohl daran liegen, dass bei der Braunschweiger Ermittlungsbehörde von den 90,99 Stellen nur 83,03 besetzt sind. Die Staatsanwälte dort haben aktuell 7.311 Ermittlungsverfahren an der Backe. In Hildesheim liegt der Bedarf bei 43,79 Stellen, aber nur 35,45 sind besetzt – und das bei 4.827 Ermittlungsverfahren. „Die durchschnittliche Dauer der erledigten Ermittlungsverfahren beträgt derzeit 1,8 Monate“, so Ministeriums-Sprecherin Verena Brinkmann.
Insgesamt ist bei den Staatsanwaltschaften in Niedersachsen die Zahl der Ermittlungsverfahren seit 2019 deutlich angestiegen, nämlich von 493.470 Zugängen auf 567.238 in 2023. Erledigt haben die Anklagevertreter 2019 491.065 und 2023 560.279. Der Endbestand daraus entwickelte sich von 58.736 in 2019 auf 73.824 in 2023. Die Zahl der Ermittlungsverfahren gegen unbekannte Täter erhöhte sich von 286.302 in 2019 auf 318.623 in 2023. Auch bei den Amtsgerichten und Landgerichten haben sich die sogenannten Endbestände von 18.775 beziehungsweise 824 in 2019 auf 20.272 beziehungsweise 1.011 nach oben entwickelt.
„Die großen Bereiche der Straftaten sind Eigentums- und Vermögensdelikte (Betrug und Untreue: 102.727; Diebstahl und Unterschlagung: 72.022), Verkehrsstraftaten (93.213) und Betäubungsmittelstraftaten (41.085)“, so Brinkmann. „Dabei handelt es sich um einen allgemeinen, bundesweiten Anstieg der Verfahren, für den multiple Ursachen – insbesondere auch neue Ermittlungsmethoden – in Betracht kommen.“
Wenn in der Diskussion um die Auswüchse der Silvesternacht in Berlin und anderswo eine konsequentere Bestrafung gefordert wird, sieht Thomas Reuter, Vize-Fraktionschef der CDU im Rat der Stadt, Polizeibeamter im Ruhestand und bekennender Böllerverbot-Unterzeichner, darin eine „Scheindebatte“. Die Justiz könne diesen Anspruch einfach nicht mehr erfüllen, sie sei hoffnungslos unterbesetzt und überfordert. Auch an den Gifhorner Fällen sei deutlich abzulesen, dass die Bestrafung längst nicht mehr „auf dem Fuße“ erfolge, sondern Jahre dauere.