Der Jahreswechsel verspricht Aufbruch, doch für viele Menschen gleicht der Januar eher einem Stresstest. Zwischen beruflichen Anforderungen, familiären Verpflichtungen und der Erwartung, „dieses Jahr alles besser zu machen“, entsteht hoher psychischer Druck. Besonders, wenn das alte Jahr bereits von Erschöpfung oder Konflikten geprägt war und zugleich Optimierungsversprechen von Fitness bis Karriere allgegenwärtig sind. „Der Jahreswechsel ist ein sensibler Moment. Er macht sichtbar, wo Menschen unzufrieden sind, und verstärkt gleichzeitig die Erwartungshaltung, sich schnell verändern zu müssen“, sagt Steffen Conrad von Heydendorff, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Sein Fazit: Nicht die Zahl der Vorsätze zählt, sondern die eigene Resilienzfähigkeit.
Resilienz ist kein starres Persönlichkeitsmerkmal, sondern ein dynamischer Prozess. Gemeint ist damit, Krisen nicht ohnmächtig gegenüberzustehen, sondern auf Probleme und Herausforderungen mit seelischer Widerstandsfähigkeit reagieren zu können. Dazu gehört, die eigene Lage realistisch einzuschätzen, Gefühle wahrzunehmen, statt sie dauerhaft zu verdrängen, und Handlungsspielräume – so klein sie auch sein mögen – zu nutzen. „Resiliente Menschen erleben ebenso Stress und Rückschläge wie andere“, erklärt von Heydendorff. „Der Unterschied ist: Sie bleiben eher gestaltend tätig, statt innerlich zu erstarren.“ Gerade am Jahresanfang, wenn Erwartungen und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen, wirkt dieser innere Spielraum wie ein Schutzpuffer.
Psychische Stabilität erwächst selten aus radikalen Umbrüchen, sondern aus der Summe kleiner, konsequenter Veränderungen. Daher ist es sinnvoll, zum Jahreswechsel bewusst nur ein oder zwei Bereiche in den Blick zu nehmen – etwa Schlaf, Erholung oder soziale Kontakte –, aber dafür konkrete, machbare Schritte zu planen: vier Abende pro Woche zur gleichen Zeit ins Bett zu gehen, den Tag ohne Bildschirmzeit zu beginnen oder im Arbeitsalltag feste Pausen einzuplanen. Das sind kleine Maßnahmen, die jedoch große Wirkung entfalten, wie der Experte erklärt: „Solche Mikro-Schritte machen erlebbar, dass man Einfluss auf das eigene Wohlbefinden hat. Gerade dieses Gefühl von Selbstwirksamkeit ist ein zentraler Baustein von Resilienz.“
Zwei Faktoren erweisen sich in der Praxis immer wieder als tragend: verlässliche Rituale und tragfähige Beziehungen. Feste Abendroutinen – etwa das Handy rechtzeitig beiseitezulegen und belastende Gedanken aus dem Kopf ins Notizbuch zu verlagern – helfen, zur Ruhe zu kommen, und fördern einen erholsameren Schlaf. Ebenso wichtig ist es, sozialem Rückzug entgegenzuwirken, der insbesondere zu Beginn eines Jahres häufig vorkommt. Kurze, verlässliche Kontakte wie ein Telefonat mit einem Freund oder ein Spaziergang mit der Nachbarin wirken stabilisierend und verringern das Gefühl, mit Belastungen allein zu sein. „Diese kleinen Formen von Verbundenheit werden oft unterschätzt, sind aber für die seelische Widerstandskraft enorm bedeutsam“, betont von Heydendorff.
Nicht jede schwierige Phase rund um den Jahreswechsel ist ein Krankheitszeichen. Dennoch gibt es Warnsignale, die ernst genommen werden sollten: Wenn Schlafstörungen, Erschöpfung, anhaltend gedrückte Stimmung, starke innere Unruhe, Gereiztheit oder sozialer Rückzug über mehrere Wochen bestehen und den Alltag deutlich beeinträchtigen, sollte professionelle Hilfe aufgesucht werden. Auch das Gefühl, nur noch zu funktionieren, kann auf eine beginnende psychische Erkrankung hinweisen. „Viele hoffen, dass es im neuen Jahr von allein besser wird, und verlieren dadurch wertvolle Zeit“, sagt der Facharzt. Frühzeitig den eigenen Hausarzt einzubeziehen, hilft, lange Leidenswege zu vermeiden und mit gezielten Maßnahmen gegenzusteuern.