So ging es auch Rocco Artale. Mit 17 Jahren verließ er sein Elternhaus in den Abruzzen zum ersten Mal, um zur Armee zu gehen. Im Frühjahr 1962 verließ er ein zweites Mal seine Heimat, um als „Gastarbeiter“ in Deutschland sein Glück zu versuchen. Artale schreibt im Buch: „Bei meiner Musterung für die italienischen Streitkräfte hatte ich meine Unterhose anbehalten dürfen, die Deutschen wollten mich ganz nackt sehen. Während der obligatorischen Untersuchung im offiziellen Auswanderungsbüro in Verona wurde ich am ganzen Körper abgetastet. Es wurde genau geschaut, ob ich denn auch Schwielen an den Händen habe und somit für körperliche Arbeit tauge. Das empfand ich damals als eine Demütigung. Dass ich tauglich befunden wurde, machte mich nichtsdestotrotz froh.“
Ursprünglich wollte Artale für ein Jahr bei Volkswagen arbeiten. Er ist für immer geblieben. Hier in Wolfsburg engagierte er sich sozial, politisch und kulturell. In der Stadt fand er auch sein privates Glück. Seine Frau Hannelore lernte er 1963 kennen, ein Jahr später heirateten sie, 1966 kam das erste Kind. Die Autobiografie habe er für seine Söhne Andreas und Mario und seine Enkelkinder Saskia, Kira, Davide und Marlon geschrieben.
Der Wolfsburger stellte das Buch in der Bürgerhalle vor. Rund 180 Menschen kamen ins Rathaus, um mehr über seinen Lebensweg zu erfahren. Der Ort war dabei alles anderes als zufällig gewählt, war es Artale doch wichtig, an jenen Ort der demokratischen Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung zurückzukehren, an dem er selbst über so viele Jahre gewirkt hatte. Von 1996 bis 2011 war er als Mitglied der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Wolfsburg, sowie Vorsitzender des Ausschusses für Ausländerangelegenheiten. Artale war vom 1. Januar 1974 bis zum 16. Juni 2000 hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär der IG Metall.
Oberbürgermeister Dennis Weilmann betonte in seiner Rede die Vielfalt an Themen, für die sich Artale in Wolfsburg, aber auch weit darüber hinaus eingesetzt hatte: „Ob Sie sich bei Volkswagen oder der IG Metall für die Belange Ihrer Kollegen eingesetzt haben, erst als Vertrauensmann, dann als Gewerkschaftssekretär, in der Kommunalpolitik im Ortsrat Detmerode oder im Rat der Stadt Wolfsburg, im Ausschuss für Ausländerangelegenheiten, für die Städtepartnerschaft mit Pesaro Urbino, für die deutsch-italienische Leonardo da Vinci Grund- und Gesamtschule, für das Vereinsleben dieser Stadt, um mit Lupo Martini, dem Abruzzen Kulturverein oder dem Seniorenring nur drei zu nennen. Wer so viele Spuren wie Sie in einer Stadt hinterlassen hat, von dem kann man guten Gewissens sagen, er habe Gemeinschaft gelebt.“
Die Idee, eine Autobiografie zu schreiben, entstand nach der Lektüre des Buches „Die Gastarbeiter-Welt“ von Hedwig Richter und Ralf Richter. „In dem Buch wurde geschrieben, dass wir Italiener uns selbst separiert und isoliert hätten. Am Ende der Lektüre war ich regelrecht wütend“, so Artale. Eine Freundin habe ihm geraten, seine Geschichte zu Papier zu bringen. Schließlich machte er sich an die Arbeit. „Natürlich bin ich kein Schriftsteller, jedoch kann ich auf ein privates Archiv zurückgreifen. Dort finde ich Informationen zu den Jahren von 1970 bis heute. Das Buch ist dennoch keine geschichtswissenschaftliche Arbeit, ich habe meine Gedanken und mein Herz sprechen lassen.“
Die Autobiografie beginnt mit der Kindheit von Rocco Artale, bildhaft und mit verständlicher Sprache berichtet er zum Beispiel vom Schulweg und seinen Eltern: „Meine Mutter hatte immer ein offenes Ohr für ihre Nächsten und Nachbarn. [...] Sie sagte mir, ich solle Gutes tun und nicht mit Hass reagieren, wenn mich jemand mit Worten verletzt.“
Den Wunsch seiner Mutter lebt der Wolfsburger, auch wenn der Start in Deutschland nicht einfach war. Die Emigranten seien mit Schildern wie „Kein Zutritt für Italiener“ oder Aussagen à la „Halt die Klappe, du Gastarbeiter“ konfrontiert worden. Im Vorwort des 400-seitigen Buches steht: „Wie oft haben sie in der Dunkelheit der Nacht in den Baracken still geweint, als sie die Nachricht eines Todesfalls aus der Heimat erhalten haben, oder weil es ihnen nicht möglich war, einem geliebten Menschen in seiner Trauer nahe zu sein!“
Rocco Artale engagierte sich Anfang der 1970er-Jahre für eine multiethnische Integration. „Wir brauchten eine Politik, die in ,Gastarbeitern’ und anderen Arbeitsmigranten eine Chance sah – eine Chance, die nicht vertan werden durfte, um wirtschaftlich und kulturell zu wachsen“, sagt Artale. Wie es dazu gekommen ist, dass nichtdeutsche Bürgerinnen und Bürger politisch akzeptiert wurden, auch darüber erzählt das Buch.
Rocco Artale ist eine italienische Integrationspersönlichkeit der Volkswagenstadt. Seine besonderen Leistungen hat die Stadt Wolfsburg mit der Ehrenbürgerschaft gewürdigt, zudem durfte er sich ins „Goldene Buch“ der Stadt eintragen. Wegbegleiter Klaus Mohrs schrieb einige Worte, die im Buch abgedruckt sind: „Er ist einer, der hinschaut und die Dinge benennt, die getan werden müssen. Er ist ein Kämpfer für die Sache, der sich hartnäckig und ausdauernd einsetzt. Er hat ein großes Herz, das Not oder soziale Ungerechtigkeit nicht zu akzeptieren bereit ist.“Artale kämpfte für den Aufbau der Boccia-Bahn am neuen Centro Italiano, als wichtiger Bestandteil der italienischen Begegnungs- und Freizeitkultur. „Rocco ist für mich gelebte Integration, er ist ein überzeugter und engagierter Wolfsburger und dabei im tiefsten Herzen immer seiner italienischen Heimat verbunden geblieben“, so Ex-Oberbürgermeister Klaus Mohrs im Vorwort.
Als ehemaligen Vorsitzenden von Lupo Martini würde man Rocco Artale immer sonntags im Stadion begegnen, schreibt Iris Bothe, Stadträtin für Jugend, Bildung und Integration, im Grußwort, das in der Autobiografie abgedruckt ist. Außerdem würde man ihn im Frühjahr und Sommer in der Porschestraße sehen, wo er seine 10.000 Schritte geht oder einen Espresso genießt. „Seine Autobiografie ist weit mehr als eine Integrationsgeschichte. Sie ist die Geschichte eines Menschen, der Verantwortung für die Gemeinschaft, die Demokratie und die Stadt übernommen hat“, so Bothe.