Bei Kummer und Sorgen empfehlen wir anderen oft, eine Nacht „darüber zu schlafen“, weil am Morgen „schon wieder alles ganz anders aussieht“. Dieser Rat könnte tatsächlich sinnvoll sein: Denn die Stimmung der meisten Menschen ist in den ersten Stunden nach dem Aufstehen am besten. Wir neigen dann eher dazu, einen optimistischen Blick auf unser Leben zu haben, hat eine neue Untersuchung gezeigt.
Forschende des University College London hatten Daten neu ausgewertet, die für eine Covid-19-Sozialstudie erhoben worden waren. 50.000 Personen hatten über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg Angaben zu ihrem Befinden gemacht und regelmäßig Fragebögen beantwortet, mit denen Angstgefühle, depressive Symptome, Einsamkeitsgefühle sowie Glücksgefühle erfasst wurden. Außerdem sollten die Befragten angeben, wie zufrieden sie insgesamt mit ihrem Leben sind. Die Autorinnen und Autoren der Studie werteten dabei aus, an welchem Wochentag, zu welcher Jahreszeit und zu welcher Uhrzeit diese Angaben gemacht wurden.
Dabei fanden sie heraus, dass das Befinden der Befragten im Winter tendenziell schlechter als in den Sommermonaten gewesen ist – ein Phänomen, das auch als Winterblues bekannt ist. Erklären lasse sich das unter anderem durch die unterschiedliche Länge an Tageslicht, das Wetter, aber auch die Ferienzeiten und die saisonal unterschiedliche Situation auf dem Arbeitsmarkt, heißt es in der Studie.
Die Forschenden stellten aber noch etwas anderes fest: In den Morgenstunden fühlten sich die meisten Menschen offenbar am besten. So waren eine negative Stimmung oder Angstgefühle zu dieser Tageszeit am geringsten ausgeprägt. Tagsüber schwankten die Werte und am stärksten ausgeprägt waren die Symptome um Mitternacht. Der Unterschied zwischen den Morgen- und den späten Abendstunden betrug bis zu 10 Prozent. In der Befragung, wie glücklich und zufrieden sie sind und wie lebenswert sie ihr Leben finden, erzielten die Befragten morgens die höchsten Werte.
Außerdem schwankten die Angaben im Laufe der Woche. So waren die Befragten tendenziell am Montag und Freitag besserer Stimmung als am Dienstag und Mittwoch – an diesen Tagen ging es ihnen auch morgens nicht besser. Das unterschiedliche Befinden an den Wochentagen erklärten sich die Forschenden am ehesten durch äußere Einflüsse. So spiele wohl am Freitag die Vorfreude auf das Wochenende eine Rolle. Am Montag würden hingegen noch die schönen Erlebnisse des vergangenen Wochenendes nachwirken.
Ein möglicher Grund für die bessere Stimmung am Morgen sei hingegen der Hormonspiegel. Die Forschenden halten es für möglich, dass das Stimmungshoch durch den Anstieg des Hormons Cortisol nach dem Aufstehen ausgelöst wird. Dies müsse aber in weiteren Studien überprüft werden.
Wichtig zu wissen ist: Auch wenn die Studie eine Tendenz zu besserer Stimmung am Morgen feststellen konnte, lässt sich das nicht auf die gesamte Bevölkerung übertragen. So ist es bei Menschen mit der Diagnose Depression meist genau andersherum, sagt Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. „Sie durchleben oft ein ausgeprägtes Morgentief und zum Abend hin verbessert sich die Stimmung dann etwas.“
Hegerl kann auch erläutern, wie das wahrscheinlich zustande kommt: „Eine Erklärung dafür ist, dass sich Menschen mit einer Depression in einer inneren Daueranspannung befinden, so als ob sie permanent vor einer wichtigen Prüfung wären. Der Wachheitszustand ist krankhaft hochreguliert. Durch Schlaf werden die wachheitsfördernden Hirnmechanismen weiter gestärkt und die Betroffenen fühlen sich noch erschöpfter und dauerangespannt. Andererseits, wenn sich im Laufe des Tages ein Schlafdruck aufbaut, dann kommen sie etwas von ihrer Daueranspannung runter und das Befinden bessert sich gegen Abend.“
Eine Beobachtung, die inzwischen auch bei der Behandlung von Depressionen genutzt wird. So werde bei der stationären Behandlung teilweise therapeutischer Schlafentzug angeboten. Bei etwa 60 Prozent der depressiv Erkrankten führe das zu deren Überraschung zu einem Abklingen der Depression in den frühen Morgenstunden, sagt Hegerl.
Auch hier sei die Erklärung, dass sich durch den Schlafentzug ein Schlafdruck aufbaut, der der krankhaft erhöhten inneren Anspannung entgegenwirkt. Allerdings komme nach dem nächsten Schlaf in der darauffolgenden Nacht die Depression meist zurück. Auch wer nicht unter Depressionen leidet, habe vielleicht schon einmal bemerkt, dass längeres Schlafen am Wochenende der Stimmung oft nicht zuträglich ist. „Wenn die Nacht durchgemacht wird, dann fühlen sich hingegen viele tagsüber positiv aufgekratzt“, so Hegerl.
Bei Menschen mit normaler Wachheitsregulation könne sich eine Zunahme der Müdigkeit gegen Abend auch negativ auf die Stimmung auswirken, wie in der neuen Studie beobachtet, sagt Hegerl: „Bei einer Depression ist es aber eben meist nicht so.“