„Wir können nicht nachvollziehen, was Kunden machen, nachdem sie sich haben von uns beraten lassen, aber nichts gekauft haben“, erklärt Ina Wichmann, Inhaberin des gleichnamigen Fahrrad-Fachgeschäfts in der Friedrich-Ebert-Straße. „Bei einer Wartung oder Reparatur ist es manchmal auffällig, denn damit kommen die Kunden dann zu uns. Aber genau wissen wir es eigentlich nie.“ Dabei seien die Preisunterschiede zum Onlinehandel oft gar nicht mal so groß. „Viele Marken kontrollieren das und verhindern, dass ihre Produkte verschleudert werden“, so Wichmann. „Gerade bei Garantiefällen bereuen Kunden oft den Online-Kauf.“ Aber nicht nur für die Zweiräder selbst, sondern auch für Zubehör nehmen die Kunden gern die fachkundige Beratung in Anspruch: „Die Kunden wollen die Sachen nämlich nicht nur sehen, sie wollen sie auch anfassen“, führt Wichmann aus. „Und wir können das Zubehör beispielsweise auch direkt am Rad montieren.“
Auch in einem Sportfachgeschäft in der Wolfsburger Innenstadt kommt es immer wieder vor, dass sich Kunden beraten lassen und dann vermutlich das entsprechende Produkt im Internet bestellen. „Seit der Corona-Pandemie hat das enorm zugenommen“, erklärt eine Mitarbeiterin des Geschäfts, die anonym bleiben möchte. „Die Hemmschwelle für Online-Einkäufe von Kleidung und Schuhe ist merklich gesunken.“ Eine wirkliche Handhabe dafür gäbe es nicht. „Wir könnten eine Pauschale für unsere Beratung nehmen, wie es in vielen hochpreisigen Geschäften bereits üblich ist“, so die Mitarbeiterin. „Wir haben uns aber ganz bewusst dagegen entschieden, unsere Beratungen und Analysen bleiben weiterhin kostenlos.“ Mit einem eigenen Online-Shop will das Unternehmen seinen Kunden einen dezentralen Anlaufpunkt für den Einkauf bieten.
Ein besonders sensibler Bereich ist die Medizin. „Auch für uns ist das Phänomen *Beratungsklau‘ nicht so einfach nachzuvollziehen“, erklärt Dr. Karsten Holz, Inhaber der Neuen Apotheke in Detmerode und Sprecher der Wolfsburger Apotheken. „Auch bei uns kommt es vor, dass sich jemand beraten lässt und es sich dann noch einmal überlegen möchte.“ Es gebe jedoch auch eine besondere Variante: „Es kommt auch vor, dass sich jemand online ein Medikament bestellt hat und dann zu uns kommt, um zu fragen, ob man das auch bei der Erkrankung nehmen kann.“
Holz sieht allerdings düstere Konsequenzen: „Wenn das so weitergeht, muss sich bald jeder Einzelhändler in Wolfsburg die Frage stellen, ob er sein Beratungsangebot noch aufrechterhalten kann.“ Denn eine Beratung sei ja erfolgt, der Umsatz sei aber ausgeblieben. „Auf kurz oder lang kann das sogar dazu führen, dass lokale Einzelhändler ihre Geschäfte aufgeben müssen.“ Es habe immer Leute gegeben, die der „Geiz-ist-geil-Mentalität hinterhergehechelt“ hätten. „Die VW-Krise hat besonders hier in Wolfsburg für Unsicherheiten gesorgt, das wird vielleicht auch dazu beigetragen haben“, vermutet Holz.
Etwa jeder dritte Verbraucher in Deutschland hat sich schon einmal im stationären Handel beraten lassen und anschließend das entsprechende Produkt nach einem Preisvergleich online gekauft. Das geht aus einer repräsentativen, online durchgeführten YouGov-Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur hervor. Laut YouGov-Umfrage sehen es Menschen in Deutschland auch eher kritisch, im stationären Handel eine Beratung in Anspruch zu nehmen und das entsprechende Produkt dann online zu kaufen. Fast die Hälfte der Befragten lehnt ein solches Verhalten voll und ganz (21 Prozent) oder eher ab (25 Prozent). Voll und ganz befürworten es hingegen fünf Prozent der Befragten, neun Prozent befürworten es eher. Unschlüssig (Antwort: „teils / teils“) waren 34 Prozent.