Umweltgifte – schädlicher als angenommen
Studien zeigen, dass synthetische Chemikalien die Fruchtbarkeit verringern und Krebs begünstigen können

Industrie-Chemikalien, die in die Umwelt gelangen, machen uns krank und zerstören Ökosysteme.Symbolfoto: Talha Hassan / Unsplash

Was, wenn eine der größten Bedrohungen für unsere Gesundheit und den Planeten unsichtbar ist, aber sich in unserer Luft, unserem Essen und Wasser befindet? Industrie-Chemikalien, die in die Umwelt gelangen, machen uns krank und zerstören Ökosysteme: Dabei richten sie viel mehr Schaden an, als vielen Menschen bewusst ist. Daher gelte es, dringend zu handeln: Zu diesem Schluss kommt jetzt ein neuer Report.

Das Unternehmen „Deep Science Ventures“ hatte im Auftrag der gemeinnützigen Grantham Stiftung Studien zu toxischen Substanzen in der Umwelt ausgewertet und Expertinnen und Experten interviewt. Daraus ist ein achtseitiger Bericht entstanden, in dem eindringlich vor den Folgen chemischer Umweltverschmutzung gewarnt wird.

Giftige Substanzen würden oft lange unbemerkt in die Umwelt gelangen, heißt es in dem Report. So seien viele Chemikalien auf den Markt gelangt, ohne dass ausreichend Daten zu den Risiken vorlagen. Und hätten sich erst dann als toxisch herausgestellt, wenn sie seit Jahren benutzt worden und Menschen ihnen ausgesetzt gewesen seien. Oft bevorzuge die Industrie bestimmte Chemikalien gegenüber anderen, weil sie billig und einfach aus raffiniertem Erdöl herzustellen seien. Substanzen, die sicherer, aber teurer sind, hätten es schwerer, sich auf dem Markt durchzusetzen.

Viele chemische Verunreinigungen entstehen laut Report bei der Lebensmittelproduktion: Pestizide und Düngemittel würden Wasser verschmutzen und Ökosysteme beeinträchtigen, „genauso wie die Nahrung, die wir essen“. Eines der gefährlichsten Düngemittel sei Klärschlamm aus Wasseraufbereitungsanlagen, der auf Feldern ausgebracht wird, aber viele toxische Chemikalien enthält.

Weltweit sind der Veröffentlichung zufolge bereits 3600 synthetische Chemikalien aus Lebensmittelverpackungen im menschlichen Organismus nachgewiesen worden. Der Report listet die gesundheitlichen Auswirkungen auf, die damit in Verbindung gebracht werden, etwa eine verringerte Fruchtbarkeit. „Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Spermienzahl weltweit zurückgeht und synthetische Chemikalien, denen wir ausgesetzt sind, diese Zahl verringern“, heißt es dort.

Problematisch in diesem Zusammenhang seien PFAS (Polyfluorierte Alkylverbindungen) – chemische Stoffe, die in vielen Alltagsprodukten stecken und sich in der Umwelt anreichern. Die Substanzen hätten „bereits die ganze Welt kontaminiert“ und befänden sich auch im Trinkwasser. Bei Männern mit einer großen Menge bestimmter PFAS im Blut sei die Spermienzahl halbiert.

Pestizide könnten sich ähnlich stark auf die Krebsraten auswirken wie das Rauchen – sie würden mit Leukämie, dem Non-Hodgkin’s Lymphom, Blasen-, Darm- und Leberkrebs in Verbindung gebracht, schreiben die Autorinnen und Autoren des Reports. Wenn Kinder vor ihrer Geburt Pestiziden ausgesetzt seien, steige dadurch das Risiko für Leukämie im Kindesalter und Lymphome um mehr als 50 Prozent.

Phthalate, eine weitere große Gruppe von Chemikalien und als Weichmacher bekannt, können laut Report sowohl die kindliche Entwicklung als auch die Gesundheit Erwachsener beeinträchtigen. So kann der Kontakt mit Weichmachern bei männlichen Babys die Anlage der Genitalien und die Fruchtbarkeit beeinflussen. Erwachsene, die höheren Konzentrationen des Weichmachers Bisphenol A ausgesetzt sind, haben demnach ein 49 Prozent höheres Risiko für Adipositas. Als weitere mögliche Folgen nennt der Report Demenz, Herzkreislauf- und Atemwegserkrankungen.

Die Autorinnen und Autoren des Reports fordern eine stärkere globale Kontrolle der chemischen Substanzen, die in die Umwelt gelangen können, und die Anwendung modernerer Testverfahren, ehe diese zugelassen werden. Ein Versagen bei der Regulierung werde zu „irreversiblen Konsequenzen für die menschliche Gesundheit und das empfindliche Gleichgewicht des Ökosystems unseres Planeten führen.“

Die Umwelt- und Verbraucherschutzorganisation Chemtrust betont, dass Klimakrise und Chemikalienbelastung der Umwelt zusammenhängen, sich gegenseitig verschlimmern und gemeinsam zum Verlust der Artenvielfalt führen. „Die Forschung zeigt, dass der Klimawandel Tiere, Pflanzen und Ökosysteme anfälliger gegenüber der Umweltverschmutzung durch Chemikalien machen kann.“

In Gletschern und im Polareis sind laut Chemtrust die gefährlichsten chemischen Schadstoffe des vergangenen Jahrhunderts gespeichert. „PFAS strömen aus den schmelzenden Gletschern des tibetanischen Plateaus und verunreinigen flussabwärts gelegene Seen und Bäche, Quecksilber entkommt aus den tauenden Permafrostböden“, warnen die Umweltschützer.

Einige Modelle sähen aufgrund der Eisschmelze durch den Klimawandel einen bis zu vierfachen Anstieg verbotener persistenter organischer Schadstoffe („persistent organic pollutants“ auf Englisch, kurz POPs) in arktischen Gewässern voraus. Höhere Temperaturen und geringere Niederschlagsmengen würden zudem die Verflüchtigung von POPs und Pestiziden in die Atmosphäre verstärken, mit einer erhöhten Luftverschmutzung als Folge.

Zudem würden häufigere, intensivere Stürme zu schwerwiegenderen industriellen Chemieunfällen führen. So seien nach dem Hurrikan Ida, der im August 2021 den US-Bundesstaat Louisiana verwüstete, mehr als 350 Öl- und Chemieunfälle gemeldet worden, die den Golf von Mexiko und den Mississippi verunreinigten. Und durch die Zunahme von Waldbränden gelangen mehr Löschchemikalien in die Umwelt. Umgekehrt trage auch die Chemieindustrie „in erheblichem Maße direkt zur Klimakrise bei“.

Um „die Krisen zu lösen, mit denen der Planet und die Menschheit derzeit konfrontiert werden“, brauche es „Maßnahmen in allen Bereichen“, schreibt Chemtrust. Der Chemiesektor spiele dabei eine wichtige Rolle und müsse „sowohl seine eigenen Treibhausgasemissionen reduzieren als auch umwelt- und gesundheitsschädliche Chemikalien“. Regulierungsbehörden müssten „ebenfalls dringend sicherstellen, dass die gefährlichsten Chemikalien schrittweise aus dem Verkehr gezogen werden“. Andernfalls bestehe die Gefahr, „dass sich die Auswirkungen des Klimawandels auf Menschen, Tiere und Pflanzen weiter verschärfen“.

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